3 Minuten Lesezeit 28 März 2023
Gemüse und Lebensmittel im Einkaufswagen

Wie der Handel das Problem der Lebensmittelverschwendung lösen kann

Von Dr. Matthias Guffler

Partner Consumer Products & Retail, EY Strategy & Transactions GmbH | Deutschland

Stratege, Handels- und Konsumgüterenthusiast, Technologieoptimist, Digitalrealist, Teamplayer

3 Minuten Lesezeit 28 März 2023

Noch essbare Lebensmittel zu entsorgen, ist aus wirtschaftlicher wie aus nachhaltiger und sozialer Sicht für Handel und Gesellschaft nicht mehr tragbar.

Überblick
  • Die Lebensmittelverschwendung kostet den deutschen Handel allein pro Jahr über 2 Milliarden Euro.
  • Dieses Problem lässt sich über einen dynamischen Rabatt analytisch lösen.
  • Dabei können KI-Systeme präzise Rabattvorschläge anhand vieler unterschiedlicher Einflussfaktoren machen, ohne die Prozesskomplexität im Markt zu erhöhen.

Ca. 400.000 Tonnen – so viel Obst, Gemüse, Fleisch, Käse, Wurst- und Backwaren werden jährlich im deutschen Lebensmitteleinzelhandel weggeworfen, obwohl die Nahrungsmittel noch genießbar wären. Das EHI Retail Institute schätzt diese Zahlen noch höher ein. Nur ein kleiner Teil wird an soziale Einrichtungen wie die Tafel weitergegeben.

Für Händler bedeutet diese Lebensmittelverschwendung einen jährlichen Verlust von über 2 Milliarden Euro. Zusätzlich entsteht 1 Megatonne klimaschädliches CO2. Verbraucher:innen haben Mehrausgaben für Lebensmittel, die sie in Zeiten hoher Inflation dringend anderweitig gebrauchen könnten. Fazit: Sowohl aus ökonomischer als auch aus Umwelt- und sozialer Sicht ist diese Verschwendung für Händler und unsere Gesellschaft so nicht mehr hinnehmbar.

Natürlich müssen Händler (immer noch) Lebensmittel aus dem Verkauf nehmen, die das Mindesthaltbarkeitsdatum (MHD) erreichen oder aus anderen Gründen nicht mehr den Qualitätskriterien entsprechen. Die Verbraucher:innen verstärken durch ihr Verhalten das Problem – sie bevorzugen bei gleichem Preis die frischere Ware. Genau hier kann aber auch eine gute Lösung ansetzen: der rechtzeitige Abverkauf mithilfe gezielter Preissenkungen.

Aus theoretischer Sicht ergibt sich die Lebensmittelverschwendung aus der Diskrepanz zwischen Angebot und Nachfrage von Frischware, wobei sich die Warenqualität über die Zeit verringert und damit der Wert laufend fällt. Dieses Problem lässt sich analytisch über einen dynamischen Rabatt lösen.

Starre Rabattregeln sind nicht die optimale Lösung

Viele Händler haben dafür Strategien entwickelt, indem sie per Regelwerk feste Abschriften (zum Beispiel 30 oder 50 Prozent) zu festen Zeiten (zum Beispiel einen Tag vor Ablauf des MHD) geben. Dieses starre Regelwerk greift aber oft zu kurz, führt zu unnötig hohen Abschriften beim Händler und teilweise zum Wegwerfen bei Kund:innen, die die Lebensmittel selbst nicht mehr rechtzeitig verwerten können.

Andere Händler gehen einen Schritt weiter, indem sie je nach Kategorie zu unterschiedlichen Zeitpunkten differenzierte Rabatthöhen geben und zum Beispiel Fleisch früher (oder höher) rabattieren als Gemüse. Ein solcher Prozess folgt aber fast immer starren Regeln und sorgt durch mehrmaliges Umetikettieren und ständige Inventarprüfung zu signifikantem Mehraufwand.

Um ehrlich zu sein, lässt sich die Komplexität des heutigen Kategoriemanagements händisch nicht mehr bewältigen.
Stephen DeAngelis
Gründer, Präsident und CEO von Enterra Solutions

Allerdings gilt auch hier: „Retail is detail“ und „Der Teufel liegt im Detail“. Stellen wir uns verschiedene Packungs- und Gebindegrößen von Waren vor, deren MHD heute abläuft. Ein To-go-Kaffee aus dem Kühlregal lässt sich an Kund:innen für den Heimweg bestimmt gut verkaufen, eine Großpackung Grillfleisch bei gutem Wetter freitagabends auch. Bei akuter Gewittervorhersage bleibt das reduzierte Grillfleisch vermutlich aber eher liegen, läuft aus dem MHD und wird entsorgt. Dies sind nur zwei Beispiele für eine Vielzahl komplizierter Wechselwirkungen von Mindesthaltbarkeit, Produkteigenschaften, externen Einflüssen und Absatz. Andere Faktoren sind Filialstandort, Feiertage, Jahreszeiten und so weiter. Dabei haben wir noch gar nicht über prozessuale Hürden wie zum Beispiel unterschiedliche Auszeichnungsarten je Warenbereich, intransparente Bestandsdaten und Verfügbarkeit von Mitarbeitenden gesprochen.

Künstliche Intelligenz passt die Preise an

Einfache Preisregeln können diese Komplexität nicht mehr abbilden. Stattdessen wird ein ausgeklügelter und ganzheitlicher Ansatz benötigt, der technisch einen Schritt weiter geht und dabei auch der operativen Realität auf der Fläche genügt.

KI-Systeme bieten hierfür gleich mehrere Lösungsansätze. Moderne Machine-Learning-Verfahren liefern präzise Vorhersagen der kurzfristigen Nachfrage. Dabei lernen sie kontinuierlich anhand historischer und aktueller Daten, passen sich an neue Gegebenheiten an und berücksichtigen eine Vielzahl von Faktoren. Intelligente Automatisierung berücksichtigt die operativen Gegebenheiten des Händlers und ermöglicht eine dynamische Preisstrategie. Das Ergebnis ist ein System, das produktspezifisch die optimale Höhe und den bestmöglichen Zeitpunkt für einen Rabatt mit der richtigen Preiskommunikation empfiehlt. Dabei ermöglichen elektronische Preisschilder sogar mehrmalige Preisanpassungen in kurzen Zeiträumen.

  • Co-Autor: Christian Wesp

    Christian Wesp ist Director bei EY-Parthenon im Growth-Strategy-Bereich mit Sektor-Fokus auf Handel und Konsumgüter. Er ist Co-Head des deutschen Data Science Teams und beschäftigt sich mit dem strategischen Einsatz von künstlicher Intelligenz und Machine Learning. Zusammen mit seinen Kunden identifiziert er innovative Use Cases, die Unternehmen erlauben, völlig neue Potentiale zu heben und ihre Daten kommerziell zu nutzen.

Fazit

Das Arbeiten gegen die Lebensmittelverschwendung führt für Händler und Kund:innen zu einer Win-win-Situation: Für den deutschen Lebensmittelhandel bedeutet dies ein Potenzial auf zusätzliche Profite im dreistelligen Millionenbereich. Kund:innen erhalten hochwertige Frischeprodukte oder auch die Möglichkeit, preiswerter einzukaufen, je nach individuellem Frischebedürfnis. Zusätzlich können Händler ihre ESG-Agenda einen großen Schritt weiterbringen – und zwar in Bezug sowohl auf ökologische als auch auf soziale Kriterien. 

Über diesen Artikel

Von Dr. Matthias Guffler

Partner Consumer Products & Retail, EY Strategy & Transactions GmbH | Deutschland

Stratege, Handels- und Konsumgüterenthusiast, Technologieoptimist, Digitalrealist, Teamplayer