6 Minuten Lesezeit 15 Juli 2021
Mann beim Arbeiten zu Hause

Dem Umbruch begegnen: Warum Zukunftsvereinbarungen eine Chance sind

Von Max Scholz

Partner, Strategy and Transactions, Ernst & Young GmbH

Transformation and restructuring native. Trusted negotiator. Significant experience in global headcount restructuring. Ambitious hobby cook. Enthusiastic fan of Asian art and culture.

6 Minuten Lesezeit 15 Juli 2021

Die Arbeitswelt befindet sich im größten Wandel der jüngeren Geschichte. Im Dialog der Sozialpartner lässt sich dieser aktiv gestalten.

Überblick
  • Zukunftsvereinbarungen werden in den kommenden Jahren immer mehr an Popularität gewinnen und bisherige Regelungsmodelle bei Tarifverträgen ablösen.
  • Durch dieses neue Denkmodell werden Kernaussagen zur Positionierung des Unternehmens in Zukunftsthemen getroffen.
  • Somit lässt sich eine langfristige Unternehmensstrategie gemeinsam mit den Arbeitnehmern gestalten.

Für die Zukunft gewappnet sein und vorausschauend die richtigen Weichen stellen. Nie war das wichtiger und gleichzeitig komplexer als momentan. Wir erleben eine immer dichter werdende Taktfolge tiefgreifender und vielschichtiger Veränderungen in der Arbeitswelt. Globalisierung, Digitalisierung, Mobilitäts- und Energiewende, Fachkräftemangel und Millennial-Mindset – die Denkweise der Generation Y – stellen Unternehmer und Beschäftigte über alle Branchen hinweg vor große Herausforderungen. Die Corona-Pandemie hat uns mit zusätzlichen Krisensituationen konfrontiert, bestehende Mängel noch stärker aufgezeigt und die Transformation weiter beschleunigt.

Um die Herausforderungen einer modernen Arbeitswelt erfolgreich zu meistern und im globalen Wettbewerb zu bestehen, braucht es mehr denn je den konstruktiven Dialog der Sozialpartner. 

Dieser Wandel birgt jedoch nicht nur Risiken, sondern auch enormes Potenzial, um die Wettbewerbsfähigkeit eines Unternehmens nachhaltig zu sichern, Arbeitnehmer für Zukunftschancen zu begeistern und tradierte Rollenmuster über Bord zu werfen. Ein bloßes „Weiter so“ kann es nicht geben. Das gilt auch für das Zusammenspiel zwischen Unternehmen und Beschäftigten sowie deren Interessenvertreter, Betriebsräte und Gewerkschaften.

Strategische Neupositionierung

Gewerkschaften stehen in Deutschland schon seit Längerem unter Druck. Ihr Einfluss auf strategische Entscheidungen in Unternehmen schwindet. Sie verlieren Mitglieder und ihnen entgleitet zunehmend die Deutungshoheit über Leitbilder, Inhalte, Formen und Ethik der Arbeitswelt ihrer Mitglieder. Auch hier ist ein Wandel notwendig, um sich strategisch neu zu positionieren und für die Beschäftigten langfristig ein starker Partner zu sein und ihre Interessen wirkungsvoll vertreten zu können.

Die Zukunftsvereinbarung (ZV) ist ein neues Denkmodell für das erfolgreiche Zusammenspiel der Sozialpartner und eine Chance für den Standort Deutschland. 

Die sogenannte Zukunftsvereinbarung (ZV), die betrieblich oder auch als Zukunftstarifvertrag geschlossen werden kann, ist dafür ein gewinnbringender Ansatz – für alle Seiten. Statt Arbeitskampf um fünf vor zwölf und erbitterte, kräfteraubende Verhandlungen über Standort- und Beschäftigungssicherung, wenn es nur noch darum geht, die nächste akute Krise abzumildern, verfolgt die ZV ein anderes Ziel. Sie ist ein neues Denkmodell für das erfolgreiche Zusammenspiel der Sozialpartner und eine Chance für den Standort Deutschland.

Grundlagen gemeinsam gestalten

Die ZV wird zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat beziehungsweise Gewerkschaft, ergänzend zu dem in Deutschland üblichen Flächentarifvertrag, ausgehandelt, kann vom Betriebsrat oder den Gewerkschaften initiiert und in Unternehmen aller Größen vereinbart werden. Sie beschränkt nicht die zulässigen Änderungen an einem Standort oder im Unternehmen, sondern Arbeitgeber und Arbeitnehmer gestalten gemeinsam die Grundlagen der zukünftigen Unternehmensentwicklung. Die ZV trifft Kernaussagen zur Positionierung des Unternehmens in Zukunftsthemen und bietet damit eine längerfristige Perspektive. Dadurch wird ein klarer und auch politisch relevanter Bezug zum Standort Deutschland hergestellt und Chancen sowie Risiken für die Beschäftigung herausgearbeitet.

Weichen für die Zukunft stellen

Die Kernthemen klassischer Tarifverträge sind vor allem Standort- und Beschäftigungssicherung, Vergütung und Einmalzahlungen sowie Arbeitszeiten. Die Teilhabe der Mitarbeiter an der Ausrichtung des Unternehmens spielt selten eine tragende Rolle – auch weil viele dieser Vereinbarungen mitten in akuten Krisensituationen verhandelt werden. Genau hier setzt die Zukunftsvereinbarung an.

Durch den Zukunftstarifvertrag können wir früher als bisher eingreifen – und nicht erst, wenn die Krise schon da ist und abgebaut werden muss.
IG Metall

Die Parteien handeln die ZV vorausschauend und nicht erst im Krisenfall aus. Damit stellen sie gemeinsam strategische Weichen für die Zukunft. Die Inhalte haben eine sehr viel weitreichendere Wirkung, beziehen sich auf standortübergreifende Fragen und beeinflussen die Unternehmensstrategie.

Im Wesentlichen umfasst die ZV drei Kernpunkte:

  1. Unternehmensleitbild und strategische Positionierung
  2. Investition & Innovation (inklusive Gesellschafterzusagen)
  3. Mitarbeiterqualifikation und Demographie

Es entsteht eine strategische Langzeitperspektive und die Möglichkeit für alle Seiten, bei Problemen früher gegenzusteuern und eigene Vorstellungen besser einzubringen. Auch Gewerkschaften oder Betriebsräte können selbst die Initiative ergreifen und Arbeitgeber zu Gesprächen über die Zukunft auffordern. So beschreibt die IG Metall die Pluspunkte eines Zukunftstarifvertrags, den sie in der Metall- und Elektroindustrie in Nordrhein-Westfalen kürzlich abgeschlossen hat: „Durch den Zukunftstarifvertrag können wir früher als bisher eingreifen – und nicht erst, wenn die Krise schon da ist und abgebaut werden muss.“

Chancen und Vorteile für die Tarifparteien

Für Arbeitgeber bedeutet die ZV, dass …

  • die langfristige Unternehmensstrategie gemeinsam mit den Arbeitnehmern gestaltet wird. Dadurch lässt sie sich leichter umsetzen und führt gleichzeitig zu einer höheren Identifikation in der Belegschaft.
  • die Arbeitnehmer zusichern, die Maßnahmen zu unterstützen, wodurch der Strategieprozess verbindlicher und professioneller wird.
  • Streiks und Tarifverhandlungen während der Laufzeit des Vertrages vermieden werden, was mehr Handlungs- und Planungssicherheit mit sich bringt.

Für die Arbeitnehmerseite kann eine ZV bedeuten, dass sie für die Dauer des Vertrages auf weitere Forderungen oder Streiks verzichten – angesichts der langen Laufzeiten ein durchaus neuralgischer Punkt.

Für die Arbeitnehmerseite bedeutet die ZV, dass …

  • Arbeitsplätze gesichert und Zusagen bezüglich Innovation und Qualifizierung vertraglich verankert werden.
  • sie die Möglichkeit bekommen, die Unternehmensstrategie und die damit verbundenen Transformationsprozesse mitzugestalten und darüber mitzubestimmen.
  • ein Steuerungskreis und eine Monitoring-Stelle etabliert werden, um die Umsetzung der Vereinbarungen sicherstellen.

Arbeitgeber und Arbeitnehmer profitieren demnach gleichermaßen, müssen dabei aber auch Kompromisse eingehen. Für die Arbeitnehmerseite kann eine ZV zum Beispiel bedeuten, dass sie für die Dauer des Vertrages auf weitere Forderungen oder Streiks verzichten – angesichts der langen Laufzeiten ein durchaus neuralgischer Punkt. Arbeitgeber hingegen sind mit einem erhöhten internen Abstimmungsbedarf konfrontiert und durch die getätigten Zusagen in ihrer unternehmerischen Freiheit eingeschränkt. Die zukünftige Ausrichtung ist für die Unternehmensführung durch konkrete Vorgaben festgelegt.

Der Erfolg einer ZV hängt im Wesentlichen von fünf Faktoren ab:

  1. Strategieentwicklung
  2. Stakeholder-Kommunikation
  3. Ganzheitliches Konzept
  4. Finanzplanung und Monitoring
  5. Verbindlichkeit, Offenheit und Konfliktfähigkeit beider Verhandlungspartner

Damit ist ein begleitender Kommunikationsplan für die Einbindung der Mitarbeiter genauso elementar wie eine aktive Nachverfolgung durch einen von Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite paritätisch besetzten Steuerungskreis und eine neutrale Monitoring-Stelle. Externe Impulse sind hier häufig unabdingbar. Genauso eine Unternehmenskultur, die auf einem Win-win-Mindset basiert.

An einem Strang ziehen

Für eine starke, nachhaltige Wirtschaft, gute Arbeitsbedingungen und gesunde Unternehmen braucht es neue Impulse, vorausschauendes Handeln und eine gemeinsame Kultur der einstigen Rivalen im Arbeitskampf. Die ZV ermöglicht es, Zukunft gemeinsam aktiv zu gestalten, statt den Wandel passiv mehr schlecht als recht zu verwalten. Arbeitgeber und Arbeitnehmer sowie deren Vertreter tun gut daran, an einem Strang zu ziehen – nur so kann es gelingen, in dieser sich wandelnden Arbeitswelt einen sicheren Hafen zu schaffen und nicht von der Welle an Herausforderungen überrollt zu werden.

Fazit

Wer als Unternehmer heute schon an morgen denkt, kommt nicht am Thema Zukunftsvereinbarung (ZV) vorbei. Sie bietet den Sozialpartnern die Möglichkeit, gemeinsam und aktiv die zukünftige Unternehmensentwicklung zu gestalten. Denn um im globalen Wettbewerb zu bestehen, braucht es mehr denn je den konstruktiven Dialog.

Über diesen Artikel

Von Max Scholz

Partner, Strategy and Transactions, Ernst & Young GmbH

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