5 Minuten Lesezeit 21 Oktober 2021

Die Zulassung des neuen Referenzzinssatzes läuft zunächst bis 2025. Nutzer tun gut daran, sich auf alle Szenarien einzustellen.

Reflexion der abendlichen Skyline auf einem Glasgebäude

Der modernisierte EURIBOR: Warum seine Zukunft dennoch ungewiss ist

Von Jan Rosam

Financial Services Consulting Capital Markets & Emerging Technology Leader; Brexit & IBOR Transition Leader, EY Consulting GmbH I Deutschland

Transformations- und Technologiespezialist im Kapitalmarkt. Sein Herz schlägt für neue Technologien, Codierung und Mathematik. Vater von zwei Kindern, Segler und Gravel-Biker.

5 Minuten Lesezeit 21 Oktober 2021

Die Zulassung des neuen Referenzzinssatzes läuft zunächst bis 2025. Nutzer tun gut daran, sich auf alle Szenarien einzustellen.

Überblick:

  • Das internationale Zinssystem steckt mitten in einer großen Reform. Die EU geht mit dem hybriden Berechnungsmodell einen Sonderweg.
  • Verglichen mit als nachhaltig robust eingestuften Zins-Benchmarks fließen in die Berechnung bislang deutlich weniger besicherte Transaktionsdaten ein.
  • Für Finanzdienstleister und Unternehmen ist es sinnvoll, Alternativen im Blick zu haben und für eine mögliche Umstellung frühzeitig Vorbereitungen zu treffen.

Mitte September wurde in den USA der erste Unternehmenskredit vermarktet, der statt an den lange gebräuchlichen Referenzzinssatz LIBOR (London Interbank Offered Rate) an den sogenannten SOFR geknüpft ist, die Secured Overnight Financing Rate für die Währung US-Dollar. Marktbeobachter haben den komplexen Konsortialkredit genau im Blick, denn er markiert den Beginn einer großen Umstellung des Zinssystems. 

In vielen Märkten läuft die Zeit für die seit Jahrzehnten gültigen Referenzzinssätze, darunter LIBOR und EONIA (Euro Overnight Index Average), zum Jahresende ab. Sie werden ersetzt durch risikoärmere Zinssätze, die besser vor Manipulation geschützt sind. Der EURIBOR ist von dieser Entwicklung nicht ausgenommen. Vollständig ersetzt wird er allerdings nicht, stattdessen haben ihn die Fachleute des European Money Markets Institute (EMMI) umfassend reformiert.

Dominierende Rolle des EURIBOR in der EU

In Europa dominiert heute der EURIBOR. Der überwiegende Teil der variablen Firmenkundenkredite wird auf dieser Basis begeben. In knapp der Hälfte der EU-Staaten dient der Zins als variable Grundlage für Hypothekendarlehen. Auch die meisten in Euro denominierten OTC-Derivate verwenden den EURIBOR. Auf Euro Short-Term Rate (€STR) wurden dagegen bisher nur eine kleine Zahl Anleihen und Kredite ausgegeben. Im Derivatemarkt ist das Volumen der EURIBOR-Swaps sogar 50-mal so groß wie im Overnight-Index-Swap-Markt, der auf €STR setzt.

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Download: The EURIBOR Transition - A Current Perspective

Unsere Broschüre gibt Einblicke und beschreibt Zukunftsszenarien.

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Die Aufsichtsbehörden haben jedoch ein mögliches Aus für den EURIBOR mangels Belastbarkeit der Daten nie ausgeschlossen. Die Euro-Arbeitsgruppe zu Risk Free Rates (RFRs) hat daher im November 2019 Empfehlungen für Ausweichlösungen veröffentlicht, die zum Einsatz kommen, falls der EURIBOR eines Tages nicht weiter genutzt wird. Diese sehen eine Methodik auf der Basis der Terminstruktur des €STR vor.

Die Aufsichtsbehörden haben ein mögliches Aus für den EURIBOR mangels Belastbarkeit der Daten nie ausgeschlossen. Die Euro-Arbeitsgruppe zu Risk Free Rates (RFRs) hat daher im November 2019 Empfehlungen für Ausweichlösungen veröffentlicht, falls der EURIBOR eines Tages nicht weiter genutzt wird. Diese sehen eine Methodik auf der Basis der Terminstruktur des €STR vor.

Hybrider Sonderweg für den EURIBOR

Die modernisierte Variante, 2019 von der belgischen Finanzmarktaufsicht FSMA (Financial Services and Markets Authority) autorisiert, ist ein Hybrid zwischen den bisher gebräuchlichen IBORs (Interbank Offered Rates) und den neuen RFRs. Die neue Berechnungsmethode gilt seit Anfang 2020. Im April 2021 wurde sie im Rahmen der vorgeschriebenen jährlichen Überprüfung in einigen Bereichen noch einmal angepasst.

Doch Finanzinstitute, die mit dem EURIBOR arbeiten, sollten sich nicht darauf verlassen, dass es dauerhaft bei dieser Lösung bleibt oder dass die jüngste Änderung einen Abschluss markiert. Schließlich hat die FSMA dem modernisierten EURIBOR zunächst nur eine vorläufige Gültigkeit zugebilligt. Zumindest ist er auf jeden Fall bis 2025 in Finanzkontrakten einsetzbar.

Vorläufige Zulassung

2025

Bis zur Mitte des Jahrzehnts ist die Zukunft des EURIBOR sicher.

Erste Hinweise zu den Daten, die bei der Bestimmung des modernisierten Zinssatzes herangezogen werden, lassen Zweifel zu, ob die Systematik den Anforderungen der Aufseher längerfristig genügen wird. Für Kreditinstitute, Vermögensverwalter und Unternehmen ist es daher sinnvoll, sich frühzeitig mit unterschiedlichen Szenarien und möglichen Alternativen zum modernisierten EURIBOR zu beschäftigen.

Auf der Suche nach robusten Referenzzinsen

Hintergrund der Zinsumstellungen in vielen globalen Finanzmärkten sind Zweifel an den Berechnungsmethoden und der Beeinflussbarkeit der bisher üblichen Sätze. Schon lange sorgen sich Aufseher, dass es bei Turbulenzen an den Finanzmärkten zu Ausreißern beim Zinsniveau kommen könnte. Der LIBOR-Skandal 2011, bei dem es Marktteilnehmern gelungen ist, den Zins zu manipulieren, hat die Kritik weiter verschärft. Regierungen der G20-Staaten haben in der Folge Vorschläge für eine grundlegende Reform erarbeiten lassen. Die Neuordnung, an der supranationale Organisationen, Aufsichtsbehörden und Zentralbanken beteiligt sind, soll die Bestimmung der Zinsen transparenter machen und die Effizienz der Finanzmärkte verbessern.

Die Neuordnung, an der supranationale Organisationen, Aufsichtsbehörden und Zentralbanken beteiligt sind, soll die Bestimmung der Zinsen transparenter machen und die Effizienz der Finanzmärkte verbessern.

Der entscheidende Unterschied ist die Berechnung. IBORs, seit mehr als drei Jahrzehnten wichtige Eckpfeiler des internationalen Finanzsystems, werden auf der Basis der Markteinschätzung einer kleinen Gruppe designierter Finanzinstitute berechnet. Den neuen RFRs liegen dagegen tatsächliche Transaktionen zugrunde.

Wasserfallprinzip als Alternative bei Datenknappheit

Der hybride EURIBOR setzt auf eine Mischung dieser Berechnungsmethoden. Diese wird als Wasserfallprinzip bezeichnet und setzt sich aus transaktionsbasierten Daten (Tier 1), transaktionsbasierten interpolierten Daten (Tier 2) und Daten aus vergleichbaren Transaktionen an unbesicherten Euro-Geldmärkten (Tier 3) zusammen. Laut den EMMI-Vorgaben sollen vorrangig Daten aus Tier 1, zu einem kleineren Anteil aus Tier 2 zum Einsatz kommen. Auf Tier 3 solle nur Rückgriff genommen werden, wenn nicht ausreichend Daten aus den vorgenannten Tiers zur Verfügung stehen. 

Tatsächlich bilden Tier-3-Daten momentan den Schwerpunkt für die Berechnungen. Je nach Laufzeit entfallen 67 bis 91 Prozent des verwendeten Datenmaterials auf diese Kategorie, die eine geringere Qualität hat. Entsprechend vernachlässigbar ist in vielen Fällen der Einfluss von transaktionsbasierten Informationen für die Berechnung.

Daten zu unbesicherten Transaktionen

91 %

Noch finden nur wenige transaktionsbasierte Daten in die EURIBOR-Berechnung Eingang. Je nach Laufzeit basieren bis zu 91 Prozent der Variablen für die Berechnung der Zinsrate auf teils unbesicherten Geldmarktgeschäften.

Bedeutung von Daten geringerer Qualität wirft Fragen auf

Für die Zukunft des EURIBOR in seiner aktuellen Form wirft die Entwicklung einige Fragen auf. Vor allem im Vergleich zu alternativen RFRs, die bald in den meisten großen Finanzmärkten weltweit zur Norm werden, schneidet der modernisierte Zins weniger robust ab. Dieser Vergleich könnte möglicherweise zeitnah die Grundlage für Forderungen nach einem Übergang auf eine erweiterte €STR liefern, der kurzfristigen RFR-Variante, die den EONIA ersetzt. 

Eine solche neuerliche Anpassung hätte erhebliche Bedeutung, da Referenzzinsen an vielen Stellen in der Finanzwirtschaft zum Einsatz kommen. Banken ziehen sie als Basis für die Kreditvergabe heran. Unternehmen und Finanzinstitute nutzen sie zur Bewertung ihrer Bilanzpositionen. Außerdem werden sie für komplexere Finanztransaktionen verwendet, zum Beispiel bei der Emission von Wertpapieren mit variablen Zinssätzen, Optionen, Terminkontrakten und Swaps.

Drei Szenarien einer Ablösung

Eine Entscheidung der Aufsichtsbehörden ist nur eines der Szenarien, die zu einer Entwicklung weg vom EURIBOR führen könnten. Denkbar wäre auch, dass Marktteilnehmer sich zunehmend für einen – noch zu entwickelnden – €STR für längere Laufzeiten (sogenannter Term €STR) entscheiden. Dem EURIBOR würden damit mehr und mehr Liquidität und Berechnungsgrundlagen entzogen. Auch eine parallele Nutzung zweier Zinssätze wäre vorstellbar.

Je nach Entwicklung dürfte ein Übergang unterschiedlich viel Zeit in Anspruch nehmen. Eine regulatorische Umstellung käme zu einem Stichtag, eine vom Markt induzierte zöge sich über einen längeren Zeitraum.

Frühzeitige Vorbereitung zahlt sich aus

Käme es tatsächlich zu einem Wechsel, würde Finanzinstituten und Unternehmen erneut einiger Aufwand entstehen. Zu den Lehren aus dem IBOR-Übergang für Banken zählen eine frühzeitige Vorbereitung auf neue Dokumentationsregeln sowie Anpassungen von Handel, Risikomanagement und Informationstechnologie. Konzerne und Mittelständler dürften vor größeren Herausforderungen stehen. Ratsam wäre daher eine frühzeitige Einbindung von Finanzdienstleistern und weiteren Fachleuten.

Wo möglich sollten bereits heute entsprechende Fallback-Lösungen in die rechtliche Dokumentation aufgenommen werden. Außerdem ist es für Marktteilnehmer hilfreich, sich angesichts diverser Fragezeichen zur Rolle des EURIBOR im Rahmen der global koordinierten Benchmark-Reform stets über alle Optionen zu informieren.

  • Co-Autor: Christian Rump

    Christian Rump ist Director im Bereich Financial Service Technology Consulting. Er hilft Kunden bei der technologischen Umsetzung von regulatorischen und Business-Case getriebenen Projekten im Kapitalmarktbereich. Aktuell u.a. bei der Umsetzung der IBOR Reform für OTC-Derivate, Wertpapiere, Kredite und Konten. Weiterhin bringt er Expertise bei der Umsetzung von Post-Merger Integrationen sowie Systemmigrationen mit und hilft Kunden bei der dauerhaften Optimierung der IT- und Prozesslandschaft.

  • Co-Autor: Lukas Frey

    Lukas Frey ist Senior Consultant im Bereich Financial Services Technology Consulting. Er hilft Kunden bei der technologischen Umsetzung von regulatorischen und Business-Case getriebenen Projekten im Kapitalmarktbereich. Aktuell u.a. bei der Umsetzung der IBOR Reform für OTC-Derivate und Wertpapiere. Weiterhin bringt er Expertise aus dem Bereich der Wirtschaftsprüfung von Kapitalmarktaktivitäten deutscher Universalbanken mit, insbesondere der Independent Price Verification, dem Collateral Management und der Restrukturierung von Kapitalmarkttransaktionen.

Fazit

Der modernisierte EURIBOR wirft bezüglich der Robustheit der zugrunde liegenden Daten Fragen auf. Finanzinstitute und Unternehmen, die mit dem Referenzzins arbeiten, tun gut daran, mögliche Änderungen im Blick zu behalten und sich frühzeitig darauf einzustellen.

Über diesen Artikel

Von Jan Rosam

Financial Services Consulting Capital Markets & Emerging Technology Leader; Brexit & IBOR Transition Leader, EY Consulting GmbH I Deutschland

Transformations- und Technologiespezialist im Kapitalmarkt. Sein Herz schlägt für neue Technologien, Codierung und Mathematik. Vater von zwei Kindern, Segler und Gravel-Biker.