6 Minuten Lesezeit 10 Februar 2022
Zwei Frauen kaufen Kleidung beim Online-Einkauf

Wie neue Technologien die digitale Transformation im Einzelhandel vorantreiben

Von Michael Renz

Leiter EY Global Retail Technology

Fokussiert auf die Transformation von Unternehmen von innen nach außen. Agent des Wandels. Achtsam in der Zusammenarbeit. Skifahrer. Vater.

6 Minuten Lesezeit 10 Februar 2022

Der Einzelhandel sollte die richtige Mischung aus unterschiedlichen Wertversprechen bieten.

Überblick
  • Um in der Post-Pandemie-Phase zu bestehen, sollten Einzelhändler auf die richtige Mischung aus unterschiedlichen Wertversprechen setzen.
  • Bei der Digitalisierung des Einzelhandels spielen neue Technologien eine entscheidende Rolle.
  • Einzelhändler sollten enger mit Technologieanbietern zusammenarbeiten, um so ihre digitale Transformation zu beschleunigen.

Die Pandemie-Erfahrungen haben das Konsumverhalten der Verbraucher verändert. Sie wollen die Kontrolle haben und wählen können, wie sie einkaufen, wo sie ihre Zeit verbringen und wem sie vertrauen. Damit sind auch ihre Erwartungen an den Einzelhandel gestiegen. Umgekehrt hat der Einfluss der Einzelhändler auf die Verbraucher abgenommen.

Für Marken und Einzelhandelsunternehmen verstärken diese Veränderungen die Notwendigkeit, eine andere Rolle im Leben des Käufers einzunehmen. Viele suchen bereits nach neuen Wegen, um die Verbraucher durch soziale und digitale Medien, neue Formen des Storytellings und innovative Dienstleistungen anzusprechen. Aber solche Schritte sind nur der Anfang. Um in der Post-Pandemie-Konsumentenlandschaft zu bestehen, sollten Einzelhändler über die traditionelle Kundenzentrierung hinausgehen und die richtige Mischung aus unterschiedlichen Wertversprechen bieten: Unsichtbarkeit (Invisibility), Unentbehrlichkeit (Indispensability) und Intimität (Intimacy).

Dabei werden neue Technologien der Schlüssel sein, um das volle Potenzial dieser Wertversprechen zu erschließen. Denn die bisherigen Technologieansätze werden nicht mehr ausreichen. Das Tempo und das Ausmaß der jetzt erforderlichen Umgestaltung – und die entscheidende Rolle, die die neuen Technologien spielen werden – erfordern neue Ansätze bei der Entwicklung von Lösungen. Um erfolgreich zu sein, sollten Einzelhändler lernen, über Ökosysteme hinweg zusammenzuarbeiten, was einen deutlichen Bruch mit den transaktionalen Beziehungen der Vergangenheit darstellt.

Disruption ist die neue Normalität

Veränderungen sind nicht neu für den Einzelhandel – er ist seit Jahren mit technologiegetriebenen Online-Pure-Playern, Start-ups und Marktplätzen konfrontiert. Einzelhändler, die nach der Pandemie einen Neustart anstreben, sollten einerseits auf Effizienz und operative Exzellenz bauen, um neues Wachstum zu erzielen. Technologie kann dabei helfen, aber die Erwartungen der Verbraucher haben sich bereits weiter verschoben – eine Lücke, die es zu schließen gilt.

Diese Notwendigkeit ergibt sich vor dem Hintergrund, dass Technologie Branchengrenzen verwischt und neue Möglichkeiten in jedem Geschäftsbereich des Einzelhandels eröffnet – vom Marketing über Beschaffung, Verkauf, Planung und Logistik bis hin zu funktionsübergreifender Unterstützung von Finanzen, Personal und Immobilien. Gleichzeitig hat Covid-19 die Verlagerung des täglichen Lebens auf Online-Plattformen beschleunigt und die Akzeptanz digitaler Alternativen ist gestiegen – sei es beim Einkaufen, bei der Arbeit, in der Freizeit oder im Unterhaltungssektor.

Kontrollverlust beim Shopping

55 %

der Menschen entscheiden sich sogar aktiv gegen den Online-Einkauf, weil sie das Gefühl haben, dass sie dadurch weniger Kontrolle haben.

Dennoch sind Vorhersagen über den baldigen Tod der Filialisten genauso alt wie überholt. Untersuchungen von EY zeigen, dass die Verbraucher das Beste aus beiden Welten wollen: 55 Prozent der Menschen entscheiden sich sogar aktiv gegen den Online-Einkauf, weil sie das Gefühl haben, dass sie dadurch weniger Kontrolle haben. 45 Prozent kombinieren Onlineshopping mit dem Einkauf in der Filiale. Außerdem geben 58 Prozent an, dass sie gerne in größeren Geschäften einkaufen, um mehr Auswahl zu haben, was vermeintlich im Widerspruch zum allgemeinen Trend hin zu Micro- beziehungsweise Nano-Stores steht.

Strategie bestimmt die Technologie – Wertversprechen im Einzelhandel

Physischer und digitaler Einkauf werden keine „Entweder-oder-Entscheidung“ sein. Wir bewegen uns in einer hybriden Welt, in der Platz für beide Modelle ist und die Grenzen zwischen den beiden zunehmend verwischen. Doch egal, ob Einkaufen über das Internet oder von Angesicht zu Angesicht stattfindet, eines ist sicher: Digitale Technologien werden dabei eine zentrale Rolle spielen.

In Anbetracht dessen überrascht es kaum, dass die EY-Studie „Reimagining Industry Futures 2021“ bestätigt, dass Covid-19 das Tempo der digitalen Transformation im Einzelhandel beschleunigt hat. 79 Prozent der Einzelhändler geben an, dass die Pandemie die Beziehung zwischen Menschen, Technologie und Prozessen in ihrem Unternehmen verändert hat – während mehr als drei Viertel sagen, dass sie ihre Pläne zur digitalen Transformation beschleunigt hat.

Richtig implementierte und integrierte Technologie bietet Einzelhändlern die Möglichkeit, die drei Wertversprechen des Einzelhandels zu erfüllen:

  1. Invisibility erleichtert das Leben der Verbraucher, baut Hemmnisse beim Online- und Offline-Einkauf ab und sorgt für Hyper-Personalisierung, intelligente Preisgestaltung und nahtlose Verknüpfung der Kanäle.
  2. Indispensability: Kundenbedürfnisse werden ganzheitlich erfüllt durch maßgeschneiderte Produkte und Dienstleistungen. Um sich unentbehrlich zu machen, sollten Einzelhändler Teil eines Netzwerks werden und so ein erweitertes Angebot an Produkten und Dienstleistungen anbieten.
  3. Intimacy: Dank einzigartiger Einkaufserlebnisse werden Händler zu Lifestyle-Partnern – unter anderem durch den konsequenten Ausbau digitaler Fähigkeiten im Store, 360-Grad-Blick auf den Kunden sowie Datennutzung und -bereitstellung in Echtzeit.

Welcher Technologie räumen Einzelhändler Priorität ein?

EY hat die Einzelhändler gefragt, welche die wichtigsten 5G-basierten Anwendungsszenarien des Internet of Things (IoT) für ihr Unternehmen sein werden, um Kundenanforderungen auf innovative Weise zu erfüllen. Die Antworten zeigen, dass Invisibility ein starker Treiber für Technologie ist, gefolgt von Customer Insights und Personalisierung.

Der Anteil der Investitionen des Einzelhandels in neue Technologien an den gesamten IT-Ausgaben steigt. Der Schwerpunkt liegt derzeit auf der Förderung der „datengetriebenen Organisation“ durch den Einsatz von Analytics und künstlicher Intelligenz (KI) sowie Robotik und Automatisierung. In den kommenden Jahren werden dazu noch 5G, Edge Computing und Quantencomputing hinzukommen. Interessanterweise sind die Investitionsabsichten in Bezug auf erweiterte und virtuelle Realität sowie Blockchain nach wie vor relativ zurückhaltend – dies könnte sich jedoch angesichts der jüngsten Entwicklungen rund um das sogenannte Metaverse und digitale Währungen ändern.

5G ist ein entscheidender Faktor – aber es gibt Herausforderungen bei der Einführung

Ein wichtiger Aspekt für Einzelhändler ist, dass neue Technologien nicht isoliert betrachtet werden können. Sie benötigen die richtige Infrastruktur und Integration, um reibungslos und konsistent zu funktionieren. Mit seiner geringen Latenz, hohen Geschwindigkeit und Bandbreite ist 5G ideal geeignet, um als „Klebstoff“ für neue Technologien in der IT-Infrastruktur eines Einzelhändlers zu dienen. Viele Einzelhändler sehen jedoch erhebliche Herausforderungen auf dem Weg dorthin. Mehr als drei Viertel (77 Prozent) glauben, dass eine erfolgreiche 5G-IoT-Implementierung eine Neuausrichtung des Betriebsmodells ihres Unternehmens erfordert. Das ist ein großes Unterfangen und mit erheblichen Kraftanstrengungen verbunden.

Die engere Zusammenarbeit mit Technologieanbietern ist das Ziel – erfordert aber ein Umdenken

Neben der Beschleunigung von Digitalisierungsprogrammen und Strategien für neue Technologien haben die Einzelhändler auch eine stärkere Zusammenarbeit über Ökosysteme hinweg in den Fokus genommen. Zwei Drittel der befragten Einzelhändler geben an, dass die Pandemie zu einer engeren Zusammenarbeit zwischen ihrem Unternehmen und Technologieanbietern geführt hat.

Eine engere Zusammenarbeit ist zwar notwendig, aber die meisten Einzelhändler nutzen die Chance noch nicht: 70 Prozent geben an, dass ihre derzeitigen Interaktionen mit 5G-Anbietern noch weitgehend taktisch und transaktionsbezogen sind. Richtig eingesetzt schafft die Zusammenarbeit mit solchen Anbietern einen Mehrwert für alle. Warum also dieses langsame Tempo? Das mag daran liegen, dass eine Kooperation ein erhebliches Umdenken erfordert. Einzelhändler waren in der Vergangenheit daran gewöhnt, IT-Systeme intern zu entwickeln und ihre eigenen Mitarbeiter zu schulen. Dabei wird es immer schwieriger und teurer, die richtigen Experten und Talente zu finden. Daher sollten Händler alternative Wege finden, um benötigte Fähigkeiten und Erfahrungen zu erlangen – eine engere Kooperation mit Spezialisten ist dabei praktisch die einzige Option, um Geschwindigkeit bei der Innovation zu erlangen und agil auf Veränderungen reagieren zu können.

Händler sollten sich in Zukunft auf Innovation durch Zusammenarbeit konzentrieren und sich dafür engagieren, anstatt in ihren traditionellen internen Ansatz zurückzufallen.

Fazit

Einzelhändler haben die einmalige Chance, die Art und Weise zu verändern, wie sie mit ihren Kunden interagieren. Viele sind dabei, sich für die Zukunft zu positionieren, indem sie neue Technologien einsetzen. Untersuchungen von EY zeigen, dass sie sich dabei in die richtige Richtung bewegen, aber es gibt noch deutliches Steigerungspotenzial. Es ist an der Zeit, mutige strategische Entscheidungen zu treffen – und Maßnahmen zu ergreifen, um diese in die Tat umzusetzen. Um die volle Kraft der neuen Technologien zu nutzen, sollten Einzelhändler jetzt die richtigen Geschäftsmodelle identifizieren und in diese investieren.

Über diesen Artikel

Von Michael Renz

Leiter EY Global Retail Technology

Fokussiert auf die Transformation von Unternehmen von innen nach außen. Agent des Wandels. Achtsam in der Zusammenarbeit. Skifahrer. Vater.