6 Minuten Lesezeit 15 Juni 2020
Tabletten in der Produktion

COVID-19: Warum sich Pharma-Lieferketten verändern werden

Von Klaus Ort

Partner des Marktsegments Life Sciences & Gesundheitswesen, EY Strategy & Transactions GmbH | Europe West

Erfahrener Partner mit Blick für Leistungs- und Wertsteigerung. Als fünffacher Familienvater sind Zusammenhalt und Wertschätzung für ihn nicht nur die Kernattribute für beruflichen Erfolg.

6 Minuten Lesezeit 15 Juni 2020

Lieferketten sind stark von China und Indien abhängig. Welche Herausforderungen in der Corona-Krise auftreten – und Lösungsansätze.

„Nicht lieferbar“ – bereits vor der Corona-Krise fehlten manche Medikamente zeitweise in Apotheken und Krankenhäusern. In der akuten Krisensituation verschärfen sich diese Engpässe weiter und treffen nicht nur Medikamente, die für die Behandlung von COVID-19-Symptomen eingesetzt werden, sondern auch solche gegen Krankheiten wie Bluthochdruck, Krebs oder Epilepsie. Dem Bundesinstitut für Arzneimittel (BfArM) zufolge gibt es derzeit bei mehr als 270 Präparaten Lieferschwierigkeiten, Ende 2019 lag diese Zahl noch bei etwa 200. Doch eine Umstellung auf ein Alternativpräparat ist oftmals schwierig und für einige Patienten ein Risiko im Hinblick auf dessen Verträglichkeit. Die Corona-Krise zeigt, wie anfällig das Versorgungssystem für Disruptionen ist – ob nun bedingt durch eine Pandemie oder auch internationale Krisen.

Die zentrale Herausforderung: Weltweit sind viele bekannte Pharmaunternehmen von Lieferanten und Produktionsstätten in China und Indien abhängig. Vor diesem Hintergrund muss die Pharmabranche ihre Sourcing-Strategien neu denken. Dabei stehen zwei Themen mit jeweils unterschiedlichen Herausforderungen im Mittelpunkt: bereits vorhandene Medikamente und neue Wirkstoffe und Therapien.

Hohe Abhängigkeit von Indien und China in Bezug auf Generika

Besonders gravierend ist die Lage nach dem Verlust der Markenexklusivität, wenn bei Generika der Kostendruck massiv steigt. Die Lieferketten sind dann extrem auf Effizienz und Kostensenkung ausgerichtet – und die Bedeutung von günstigen Produktionsstandorten ist besonders groß.

Pharma-Lieferketten

26 %

der Generika und Over-the-counter-Medikamente in Europa werden aus Indien importiert.

In der Corona-Krise zeigt sich die Abhängigkeit von Indien, nachdem im März der Export von 26 Wirkstoffen, sogenannten Active Pharmaceutical Ingredients (APIs), zeitweise gestoppt wurde. Der Food and Drug Administration (FDA) zufolge beziehen die USA etwa 24 Prozent ihrer Medikamente und 31 Prozent wesentlicher Vorstufen aus Indien. Das Council on Foreign Relations berichtet, dass 40 Prozent der Generika und Over-the-counter-Medikamente in den USA aus Indien importiert werden. In Europa wird der Anteil von Dinesh Dua, Vorsitzender des „Pharmaceutical Expert Promotion Council of India“, auf 26 Prozent geschätzt, mit Deutschland als größtem Abnehmer indischer Generika innerhalb der EU.  

Doch die Kette der Abhängigkeiten ist noch länger. Denn nach Angaben FDA importiert Indien wiederum etwa 70 Prozent der Wirkstoffe aus China, wo ebenfalls aufgrund der Corona-Ausbreitung Werke zeitweise stillgelegt und der Handel gestoppt wurde. Im August 2019 verfügte China demnach über 230 Werke zur Herstellung von APIs, das sind 13 Prozent aller weltweiten Produktionsstätten; auf Indien entfallen 18 Prozent. Wie hoch aus Volumensicht die Abhängigkeit in Bezug auf in China produzierte APIs ist, dazu kann die FDA keine Angaben machen.

Dennoch zeigen die Engpässe klar: Einem risikobasierten Ansatz folgend, sollte die Versorgungssicherheit insbesondere mit Blick auf Generika, Antibiotika und andere essenzielle Medikamente durchleuchtet und Geschäftsmodelle sowie Lieferketten im Sinne einer nachhaltigen Versorgungssicherheit angepasst werden. 

Der Schalter lässt sich jedoch nicht von heute auf morgen umlegen. Eine solche Neuausrichtung – insbesondere der Aufbau und die Auslastung von Produktionskapazitäten in Europa oder den USA – kostet in dem stark regulierten Markt Zeit und ist mit erheblichen Mehrkosten für die Konzerne verbunden. Dies führt zu steigenden Preisen für Medikamente oder Verlusten in der Marge, die der Finanzierung neuer Medikamente dient.

Die Strategieänderung ist auch aus wirtschaftspolitischen Gründen knifflig: Denn Asien, insbesondere China, ist auch ein sehr wichtiger Absatzmarkt und spielt eine zunehmend wichtige Quelle für zukünftige Innovationen. Um diese Beziehungen nicht zu gefährden, muss der Prozess unter Moderation der Politik im Dialog mit allen Beteiligten gestaltet werden.

COVID-19 treibt Innovation und erfordert Skalierbarkeit der Versorgungsketten

Auch im Kampf gegen die Corona-Pandemie gilt es, einige Hürden zu überwinden: Derzeit arbeiten zahlreiche Unternehmen an der Entwicklung und Zulassung eines Impfstoffes. Außerdem werden bekannte Medikamente und Therapien auf ihre Wirksamkeit für COVID-19-Patienten getestet, vor allem antivirale Medikamente, Immunmodulatoren und Medikamente zur Behandlung von Lungenkrankheiten.

Ist eine wirksame Therapie oder der ersehnte Impfstoff gefunden und zugelassen, ist das Ziel noch lange nicht erreicht. Dann muss eine schnelle Skalierung erfolgen. Um die Mittel in den erforderlichen Mengen für zig Millionen, sogar Milliarden Menschen herstellen zu können, braucht es die nötigen Produktionskapazitäten. Nicht zuletzt muss schnell ein effizientes Lieferanten-Netzwerk aufgebaut werden. Um keine Zeit zu verlieren, ist es wichtig, Produktion und Lieferketten bereits während der Entwicklungs- und Testphase zu antizipieren und in diese zu investieren. Es gilt, frühzeitig den Kontakt zu allen relevanten Playern herzustellen, um dann im Erfolgsfall schnell breit in den Markt gehen zu können – auch wenn das Risiko besteht, dass sich die Wirksamkeit eines bestimmten Wirk- oder Impfstoffes nicht bestätigt und umsonst investiert wurde.

Klinische Studien zur Neuzulassung von Medikamenten und Therapien

Auch unabhängig von COVID-19 ist die Neuentwicklung und Markteinführung von innovativen Medikamenten von größter Bedeutung. Dabei können disruptive Ereignisse dazu führen, dass Feldtests und Zulassungsverfahren zeitweise stoppen und sich die Prozesse verzögern. Dies liegt in der Regel weniger an Lieferengpässen der Wirkstoffe, denn dafür sind die Volumina der Testmedikamente noch zu gering. Vielmehr geht es um die Infrastruktur und den Zugang zu Testpersonen und medizinischem Personal sowie die Arbeitsfähigkeit der entsprechenden Behörden. 

Die Pharmabranche braucht eine krisenfeste Logistik und einen belastbaren Informationsaustausch zwischen Patienten, Ärzten, Behörden und Industrie. Den Schlüssel dazu liefert die Digitalisierung.

Verzögerungen in klinischen Studien lösen eine Kettenreaktion aus: Dann verschieben sich die Marktzulassungen und in der Folge auch die Behandlung von Patienten. Darunter leidet wiederum der für die Life-Science-Industrie notwendige Cashflow zur Finanzierung weiterer Innovationen und letztendlich sinkt damit der Börsenwert der Pharmaunternehmen. Die Folgen für Patienten und alle anderen Akteure des Ökosystems sind langfristig spürbar.

Um dies zu verhindern, braucht es eine krisenfeste Logistik und einen belastbaren Informationsaustausch zwischen Patienten, Ärzten, Behörden und Industrie. Den Schlüssel dazu liefert unter anderem die Digitalisierung, da sie die notwendige Vernetzung aller Beteiligten ermöglicht, um kurzfristig auf veränderte Rahmenbedingungen reagieren zu können.

Lösungsansätze: Multisourcing-Strategien, schnellere Prozesse, Digitalisierung

Diese derzeit deutlich heraustretenden Probleme werden zu vielen Veränderungen in der Pharmabranche führen, insbesondere in Bezug auf die Ausgestaltung der Lieferketten und Investitionen in Produktionskapazitäten in Europa und den USA. Die Verlässlichkeit von Lieferketten wird auch von politischer Seite stärker eingefordert werden. Sehr wahrscheinlich erleben wir künftig stärkere staatliche Eingriffe, aber auch Investitionsbereitschaft. Trotz der aktuell erkennbaren Rückkehr zu nationalen Lösungen in der Corona-Krise sind auf europäischer Ebene einheitlich entwickelte Lösungen wünschenswert.

In Zukunft werden wohl auch bei Zulassungen neuer Medikamente und bestehender Werke für neue Produktion schnellere Lösungen zum Hochfahren von Kapazitäten entwickelt. Unverzichtbar dabei ist, dass Qualitätsmanagement und Registrierung integriert zusammenarbeiten und die zugrundeliegenden Prozesse auch in einer Phase des „Social Distancing“ effektiv und effizient funktionieren.

Die Corona-Krise zeigt darüber hinaus die Vorteile der Digitalisierung. Aus dem Homeoffice lassen sich die Prozesse unter Einbindung aller Beteiligten über Unternehmens- und Behördengrenzen fortführen. Dafür sind Flexibilität, Agilität und digitale Arbeitsweisen Grundvoraussetzungen. Auch die Befähigung der Mitarbeiter, in einer solchen Umgebung zu arbeiten, ist von essenzieller Bedeutung – auf allen Ebenen der Unternehmen, Behörden sowie Kliniken und Praxen. Letztlich müssen auch die Patienten Zugang zu digitalen Lösungen haben und damit umgehen können.

Fazit

Die Corona-Krise hat die große Abhängigkeit Europas und der USA von China und Indien in Bezug auf die Verfügbarkeit von Wirkstoffen offengelegt. Nötig sind neue Lieferketten, Multisourcing-Strategien und agile Zulassungsverfahren. Die Bedeutung asiatischer Märkte muss dabei beachtet werden und erfordert einen Dialog.

Über diesen Artikel

Von Klaus Ort

Partner des Marktsegments Life Sciences & Gesundheitswesen, EY Strategy & Transactions GmbH | Europe West

Erfahrener Partner mit Blick für Leistungs- und Wertsteigerung. Als fünffacher Familienvater sind Zusammenhalt und Wertschätzung für ihn nicht nur die Kernattribute für beruflichen Erfolg.