6 Februar 2023
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Bernd Reichelt, Stadtwerke Menden

Von EY Deutschland

Building a better working world

Co-Autoren
6 Februar 2023
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„Wir müssen viel mehr in die Stromnetze investieren.“

Überblick
  • Versorgungssicherheit, Klimaschutz und Wirtschaftlichkeit müssen immer einen ausgewogenen Dreiklang ergeben.
  • Erdgas soll durch grünen Strom ersetzt werden. Um die massiv steigende Energie im Stromnetz übertragen zu können, muss dieses massiv ausgebaut werden.
  • Genehmigungsverfahren sind auf allen behördlichen Ebenen langwierig. Viele Parteien müssen beteiligt werden – das kostet Zeit, hat aber auch Vorteile.

So wie drei Viertel aller Stadtwerke hat auch Stadtwerke Menden im südwestfälischen Sauerland in den Bereichen Strom und Gas weniger als 100.000 Messlokationen (spartenübergreifend). Im Interview erklärt Reichelt, warum er das Gasnetz noch nicht abgeschrieben hat und warum er sich von der eigenen Branche mehr Optimismus wünscht.

EY: Die Stromverteilnetze stehen vor großen Herausforderungen, nicht nur technisch, auch im Hinblick auf die Energiewende: dezentrale Erzeugung, lokale Einheiten, Wärmepumpen, Elektromobilität. All das bringt ganz neue Herausforderungen für den Netzausbau, auch auf Verteilnetzebene. Halten Sie das aus der Perspektive eines Verteilnetzbetreibers für machbar und realistisch? Und wenn ja, termingerecht für 2045 oder eher verspätet?

Bernd Reichelt: Trotz des alltäglichen Störfeuers bleibt der rote Faden der politische Beschluss, bis 2045 klimaneutral zu sein. Allerdings ist der Aspekt der Versorgungssicherheit jetzt viel stärker in den Fokus gerückt. Wirtschaftlichkeit, Versorgungssicherheit und Klimaschutz sind weiter in einem Gleichgewicht zu halten. Denn was nützt uns Klimafreundlichkeit, wenn wir die Versorgung nicht sichern und damit den sozialen Frieden gefährden? Oder die wirtschaftliche Entwicklung ramponieren? Wir sind hier in Menden ganz lokal unterwegs, aber am Ende des Tages müssen wir erkennen, dass es nicht nur eine nordrhein-westfälische, bundesdeutsche oder europäische, sondern eine weltweite Frage ist.

Wie sieht es also aus mit dem Rückzug aus dem Erdgasgeschäft und dem Einstieg in eine Zukunft, in der alles auf grünem Strom basiert – Stichwort „all electric“?

Menden ist so wie 80 bis 90 Prozent aller Stadtwerke sehr stark im Erdgasgeschäft unterwegs, unserer bisherigen Cash Cow. Wenn wir die Energiemengen aus dem klassischen Erdgasnetz nehmen, liegen die mit einem Faktor 2 oder 3 über dem, was über die Stromnetze gefahren wird. Wenn also am Ende alles elektrisch funktionieren soll, müssten wir aktuell viel mehr in die Stromnetze investieren. Bei uns in Menden fließen daher im Wirtschaftsplan 2023 die wesentlichen Millionen ins Stromnetz: in die Anlagen, Übernahmestationen, Verteilstationen und die Technologie, aber auch in entsprechende Leitungen, weil sie von den Dimensionen, die wie wir historisch kennen, nicht dafür gedacht sind. Rückblickend haben wir da vielleicht zu wenig investiert.

Ist das Gaszeitalter für Sie damit vorbei?

Wir halten da erst mal den Bestand und schauen, was kommt. Vielleicht fließen demnächst andere Arten von Gas durch die Leitungen. Ganz abgeschrieben haben wir das Gas also noch nicht. Auch wenn manche Staatssekretäre dieser der Meinung sind, machen wir das jetzt noch nicht.

Bis wann könnten Sie Klimaneutralität erreichen? In 10 Jahren, 15 Jahren oder eher in 30?

Ich habe keine Glaskugel. Aber schauen wir mal, wie wir in den vergangenen Jahren in Strom, Gas und Wasser investiert haben. In einem Stadtwerkeunternehmen mit einem Umsatz von 60 bis 70 Millionen Euro und einer Stadt mit ungefähr 55.000 Einwohnern haben wir in den vergangenen Jahren 4 bis 6 Millionen Euro pro Jahr in die Infrastruktur für Strom, Gas und Wasser investiert. Im nächsten Jahr werden wir einmalig 18 Millionen investieren. Davon gehen allein 10 Millionen in den Bereich Strom. Das wird in den nächsten Jahren so ähnlich weitergehen. Perspektivisch gehe ich davon aus, dass in den nächsten 15 Jahren unser Stromnetz in Menden definitiv nicht mehr so aussieht wie jetzt.

Das heißt, Sie bewegen sich zeitlich im Korridor der politischen Planung?

Letztendlich geht es darum, dass wir in unseren Bestandsquartieren die Wärmewende hinbekommen. Und dazu brauchen wir starke Stromnetze.

Sie haben andere Gase angesprochen. Wir haben gerade eine aufwendige Studie durchgeführt, die zeigt, dass Wasserstoff eher bei den großen Konzernen auf der Agenda steht. Bei den Stadtwerken und kommunalen Unternehmen schaut sich das Thema zwar jeder an, doch die dezentrale Erzeugung von Wasserstoff steht ebenso wenig auf der Prioritätenliste wie das Thema Netze für Wasserstoff. Wie ist es bei Ihnen im Unternehmen?

Da sind wir hier in Südwestfalen ganz stark getrieben durch unsere Kundenstruktur, also durch den Mittelstand. Die Kirchhoff-Gruppe, die die ganze Automobilindustrie beliefert, hat da eigene Projekte. Die bräuchten uns dann nur für den Transport. Das wäre aber für uns ein bisschen wenig in der Wertschöpfungskette. Also müssen wir schauen, ob wir selbst in das Thema Erzeugung einsteigen können, also Elektrolyse. Zum Beispiel quartiersmäßig: Wir wollen Gewerbegebiete von Anfang an klimaneutral entwickeln und dort auch über Elektrolyse im Quartier Wasserstoff nutzen. Also nicht für die gesamte Stadt. Wir glauben an einen Mix unterschiedlicher Energieträger.

Wo es um behördliche Verfahren geht, wo sehen Sie da Potenziale, schneller zu werden?

Wir haben hier vor Ort ein Windprojekt der Gelsenwasser, das seit zwei Jahren aus solchen Gründen ruht. Und wir haben eine Flächen-Photovoltaikanlage, die wir jetzt auch nach zwei Jahren endlich in die Umsetzung bringen. Was wir feststellen, ist, dass auf allen Ebenen von Kommune bis Landkreis der Wille da ist. Die Priorisierung ändert sich. Aber diese Verfahren haben halt ihre Schritte. Das ist auch ein Gewinn unserer Gesellschaft, dass wir eine hohe Beteiligung haben und alle Aspekte betrachten. Die Verfahren an sich sind also nicht das Problem, es geht eher um die Prioritätensetzung. Also wie schnell wird eine Akte bearbeitet, wo setzt ein Landrat seine begrenzten Ressourcen ein?

Eine interessante Beobachtung! Das hört man kaum mal so positiv formuliert. Es wird im Moment viel geschimpft, viel Bashing betrieben …

Ja, wir haben mit dem BDEW jetzt jede Woche Krisenstab, aber immerhin: Jetzt haben wir eine Politik, die reagiert und etwas tut. Daher sage ich: Wir müssen auch mal das Positive sehen und nicht so viel jammern! Wenn ich permanent denke, ich schaffe es nicht oder es sind andere schuld, mit welcher Motivation gehe ich da ran?

Wie sieht denn Ihre Zukunftsstrategie aus? Setzen Sie auf mehr Netzkapazität oder auf ein smarteres Netz oder eine smartere Verknüpfung?

Vor allem auf eine smarte Verknüpfung, denn wir haben eine tolle Infrastruktur. Unsere Vorgänger haben in vielen Dingen schon recht weit gedacht. Deshalb brauchen wir heute eine Verknüpfung von klassisch-traditioneller Technologie mit smarter Technologie. Die digitale Transformation im Netzmanagement ist auch bei uns im Hause in den letzten zehn Jahren ein großes Thema, das von interdisziplinären Teams bearbeitet wird. Wenn wir intern so organisiert wären wie vor 50 Jahren, wäre das nicht hilfreich für die Beantwortung der Fragen, denen wir uns heute stellen müssen. Für eine neue, smarte Verknüpfung brauche ich auch eine kulturelle Transformation. Das Wissen ist doch da, es muss nur anders verknüpft werden.

Wenn das Thema Finanzierung nicht die größte Hürde für die Energiewende ist, was wäre denn stattdessen ein dicker Brocken, den man aus dem Weg räumen muss?

Also, bei uns vor Ort ist der dicke Brocken wirklich, den Mut zu haben, in die Zukunftstechnologien auch zu investieren. Es gibt definitiv andere Städte, die schon in der Vergangenheit viel mehr in erneuerbare Energien investiert haben als Menden. Also da sind wir noch sehr stark in den Lippenbekenntnissen und brauchen die konkrete Umsetzung, gerade bei Projekten, bei denen die Leute sagen: Ja, so was brauchen wir – aber nicht vor unserer Haustür!

Wie sieht es beim Gasnetz aus? Erdgas wird auch nach unserer Wahrnehmung als Brückentechnologie nicht ausreichend gewürdigt. Merken Sie hier schon Rückgänge in den Anschlüssen? Gehen Sie selbst in Abwartehaltung?

Bei den Investitionen schon. Vor zwei Jahren waren wir noch davon überzeugt, alles von Öl auf Gas umzustellen. Heute ist es eher eine Sicherheitsfrage, das Gasnetz aufrechtzuerhalten. Die Abschreibungszeiträume zu verkürzen oder gar ein Rückbau kommen jedoch noch nicht infrage. Wir haben starke Nutzer, die immer noch sagen: Wir glauben nicht an „all electric“, wir glauben noch an unsere leitungsgebundene Infrastruktur. Also, dieser Kulturkampf ist noch nicht entschieden.

Merkt man das auf Kundenseite? Dass etwa neue Quartiere nicht mehr mit Gasleitungen erschlossen werden müssen?

Durch die entsprechenden Vorgaben ist Gas bei den Neubaugebieten ja tendenziell sowieso raus, selbst Kombinationen zwischen Gas und erneuerbaren Energien kommen kaum noch infrage. Stattdessen geht es stark in Richtung Niedrigenergiehäuser und alles, was Erneuerbare sind, also Erdwärmepumpen, die allerdings alle Strom brauchen. Ich sag immer: Ihr müsst wissen, wenn es ganz kalt wird, dann heizt ihr mit Strom. Und wir reden hier darüber, dass die Leute keine Heizlüfter nutzen sollen, damit unser Stromnetz nicht zusammenbricht – aber gleichzeitig verkaufen wir eine Wärmepumpe nach der anderen und wollen auch noch Wallboxen. Da sind wir wohl alle ein bisschen blind auf einem Auge.

Der Koalitionsvertrag sieht den Smart-Meter-Rollout als eines der Schlüsselinstrumente der Energiewende. Doch kaum wurde das Ziel ausgerufen, erhielt die Branche mit der Rücknahme der Marktverfügbarkeitserklärung einen Dämpfer für den gerade erst angelaufenen Rollout. Wie ist der Stand bei Ihnen?

Also, wir sind seit einigen Jahren Mitgesellschafter der Stadtwerke-Kooperation Smart Optimo und da erleben wir dieses Auf und Ab. Erst war da diese Euphorie, jetzt haben wir die Genehmigung und dann wurde sie wieder einkassiert. Das ist für Smart Optimo nicht optimal. Jeder weiß, dass dieses Geschäftsmodell kommt, dann kommt es aber irgendwie doch (noch) nicht. Smart Optimo kann damit nur leben, weil Osnabrück und Münster ihr Standardgeschäft darüber machen. Aber der große Wurf ist eben noch nicht da. 

Jetzt haben wir viel über Technik gesprochen. Wie müsste denn der Markt organisiert werden? Brauchen wir ein anderes Marktdesign, beispielweise mehr regionale Flexibilitätsmärkte?

Das ist ja eine der Kernfragen. Wie viel Staat lassen wir noch zu? Wenn unsere Bundestagspräsidentin Bärbel Bas von der SPD sagt: „Vielleicht müssen wir Strom, Gas, Wasser komplett verstaatlichen“, haben wir dann überhaupt noch einen Markt? Ich teile da grundsätzlich die Haltung des BDEW. Wir sollten die Marktregeln so lange wie möglich laufen lassen, weil mehr Regulierung die Sache nicht besser macht. Wie viel man dem Markt allerdings in der momentanen Situation zutrauen kann, weiß ich nicht so genau.

Wir hören da trotz allem ein gewisses Unbehagen heraus mit den Auswirkungen des aktuellen Marktdesigns …

Also, Robert Habeck, der ja philosophisch beschlagen ist, hat mal die Frage gestellt, ob unsere Art des Wirtschaftssystems grundsätzlich die richtige ist. Systeme verändern sich, und auch unser Wirtschaftssystem ist nicht in Stein gemeißelt. Ich selbst bin ein Befürworter der sogenannten Gemeinwohlökonomie. Dabei geht es um Fragen wie: Wozu ist ein Unternehmen am Ende da? Was ist das Leitbild? Geht es wirklich nur um den Return on Investment? Nur um die harten betriebswirtschaftlichen Zahlen? Oder wird die Betriebswirtschaftslehre gerade neu geschrieben? Also müssen wir uns grundsätzlich noch mal Gedanken machen. Ich glaube, da ist was dran, das ist im Tagesgeschäft natürlich schwierig, aber es wird genug Wissenschaftler geben, die darüber gezielt nachdenken. Und da ist man dann bei der Designfrage: Wie sollen unsere Energiemärkte eigentlich in Zukunft aussehen? Ich hoffe, gemeinwohlorientierter als heute.

 

Fortschrittsmonitor Energiewende Ergebnisdokument

Um die Fortschritte zu messen und sichtbar zu machen, haben der Bundesverband der Energie und Wasserwirtschaft e. V. (BDEW) und EY gemeinsam einen Fortschrittsmonitor entwickelt.

Jetzt das Ergebnisdokument herunterladen

 

Fazit

Damit unsere Gesellschaft langfristig zusammenhält, muss ein Gleichgewicht aus Versorgungssicherheit, Klimaschutz und Wirtschaftlichkeit erreicht werden. Die Stadtwerke Menden legen ihren Fokus bei Investitionen seit Jahren auf den Ausbau der Stromnetze. Wenn diese intelligent gesteuert werden, steigert sich ihre Leistungsfähigkeit immens. Das Gasversorgungsnetz wird kaum noch erweitert – Neubaugebiete werden ohne Gasnetz erschlossen und setzen auf alternative Wärmequellen.

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