6 Minuten Lesezeit 24 September 2020
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„Selbstorganisation und Selbstverantwortung sind entscheidend“

Von EY Deutschland

Building a better working world

6 Minuten Lesezeit 24 September 2020

Die Corona-Krise legt offen, welche Strukturen in Krisenzeiten widerstandsfähig sind. Dr. Florian Roth über den Aufbau systemischer Resilienz.

Überblick
  • Weltweit bestehen in der Corona-Krise diejenigen Strukturen, die besondere Widerstandskraft aufweisen.
  • Anstatt vor der nächsten Krise nur Symptome zu bekämpfen (Single-Loop-Learning), sollte die Frage nach den Ursachen gestellt werden (Double-Loop-Learning).
  • Nötig dafür sind vorausschauendes Führungsdenken – und mehr Freiheiten für Mitarbeiter.

COVID-19 war erst der Anfang. Die Pandemie hat offengelegt, wie verletzbar viele politische und wirtschaftliche Strukturen sind. Was müssen wir jetzt beherzigen, um für kommende Krisen besser gewappnet zu sein? Ein Gespräch mit Dr. Florian Roth vom Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung über systemische Resilienz.

EY: Durch das Coronavirus erleben wir eine Pandemie, wie es sie seit der Spanischen Grippe vor einem Jahrhundert nicht mehr gegeben hat. Wer bittet Sie in solchen Zeiten um Rat?

Dr. Florian Roth: In den vergangenen Monaten kamen immer mehr Anfragen aus der Industrie und auch in der Forschungsförderung interessiert man sich immer stärker für das Thema Resilienz. Es wurde vielen schnell klar, dass diese große Krise aktiv gestaltet werden muss. Sie wollten nicht nur reagieren, sondern die nötigen Weichen für die kommenden Jahre stellen.

Durch COVID-19 sind aber auch neue Möglichkeiten im Umgang mit Krisen entstanden. Es gilt weiterhin, andere große Transformationsprozesse wie Dekarbonisierung, Digitalisierung und Klimawandel zu gestalten. In vielen Bereichen – sowohl bei Vertretern aus Politik und Verwaltung als auch in der Privatwirtschaft – tritt jetzt der große Spardruck der vergangenen Jahre in den Hintergrund, gerade auch bei Risikomanagement und Risikovorsorge. Es gibt eine Gelegenheit, um zu sagen: Wir können nicht alles nur auf kurzfristige Effizienz trimmen.

  • Risiken und Resilienz im Blick: Dr. Florian Roth

    Dr. Florian Roth ist Projektleiter am Competence Center Politik und Gesellschaft des Fraunhofer-Instituts für System- und Innovationsforschung ISI. In vielen Projekten mit nationalen und internationalen Partnern hat er untersucht, wie Organisationen mit Komplexität und Risiken umgehen können. Schwerpunkt seiner Arbeit sind die aktive Gestaltungen von Transformationsprozessen sowie Strategien zur Förderung der Resilienz komplexer sozio-technischer Systeme.

Wie kategorisieren Sie denn Krisen? Was unterscheidet beispielsweise die Klimakrise von den Umwälzungen durch das Coronavirus?

Es gibt „Creeping Crises“ wie den Klimawandel und ähnliche schleichende Veränderungen, die man als Strukturkrisen bezeichnet. Da werden zwar langfristige Warnsignale gesehen, aber es wird nicht entschieden genug gegengesteuert. Klar davon abzugrenzen sind wirkliche Schockereignisse, die als disruptive, externe Faktoren auf ein System treffen. In meinem Forschungsgebiet geht es schon seit einigen Jahren um die Vulnerabilitäten solcher Systeme – und trotzdem war es erstaunlich für mich zu sehen, welch tiefe Schwachstellen COVID-19 offengelegt hat.

Für die Transformationsprozesse in der Automobilindustrie oder im Luftfahrtsektor hat die Corona-Krise wie ein Katalysator gewirkt. Hier hat sich gezeigt, was nötig oder gar überfällig ist. Das Gebot der Stunde ist, nicht den Status vor der Krise wiederherzustellen, sondern eine Transformation voran zu treiben. Mich hat die Wucht überrascht, mit der Corona solche Probleme offenbart hat.  

Werden schnell Schuldige gesucht, wenn eine Krise so tief greift?

Manche Systeme suchen nach Verantwortlichen. Es geht aber nicht darum, einen Schuldigen zu suchen, sondern darum, die richtigen Konsequenzen aus einer Krise zu ziehen. Im Zusammenhang mit COVID-19 ist es wichtig, zwischen Single-Loop- und Double-Loop-Learning zu unterscheiden. Single-Loop-Learning heißt, sich zu fragen, welche Produkte und Services im Zuge von COVID-19 ausgefallen sind oder knapp wurden, beispielsweise Schutzmasken oder Beatmungsgeräte. Damit das künftig nicht noch einmal passiert, werden Vorkehrungen getroffen.

So bereitet man sich auf den vergangenen Krieg vor, nicht aber auf den kommenden. Allerdings gestalten sich Krisen oft sehr unterschiedlich. Daher braucht es Double-Loop-Learning. Das liegt eine Abstraktionsebene höher und stellt die Frage: „Warum haben wir damals Fehlannahmen getroffen und warnende Experten ignoriert?“

In der Psychologie bedeutet Resilienz die Fähigkeit, mit Schocks und disruptiven Ereignissen umzugehen, sie zu verarbeiten, zu überleben und sich weiterzuentwickeln, sich daran anzupassen und zu prosperieren.
Dr. Florian Roth

„Resilienz“ gibt es als Begriff in der Psychologie, der meist mit Widerstandsfähigkeit in Krisen und mit Selbstwirksamkeit übersetzt wird. Sie verwenden den Begriff „systemische Resilienz“. Wie genau definieren Sie ihn?

Die psychologischen Ansätze sind tatsächlich hilfreich. Schon ihre Geschichte ist beeindruckend, weil es dabei viel um die Erforschung von Traumata geht. Wie kann es sein, dass Menschen und mentale Systeme schwerste Schicksalsschläge so verarbeiten, dass sie daraus gestärkt hervorgehen? In dem Zusammenhang bedeutet Resilienz die Fähigkeit, mit Schocks und disruptiven Ereignissen umzugehen, sie zu verarbeiten, zu überleben und sich weiterzuentwickeln, sich daran anzupassen und zu prosperieren. Vieles davon lässt sich auf Organisationen oder Gesellschaften übertragen.

Wird eine Organisation krisensicherer, je mehr Schocks und Probleme sie erlebt hat?

Wie bei einer sportlichen Beanspruchung braucht es eine Regenerationszeit. In der Resilienzforschung gibt es unterschiedliche Phasen: Reorganisation, Stabilisierung und Wachstum. Nach einer Krise geht es darum geht, sich neu aufzustellen, Prozesse zu etablieren und beizubehalten. Wenn ich von einer Krise direkt in die nächste übergehe, dann funktionieren diese Phasen nicht.

Es lassen sich aber wiederkehrende Erkenntnisse dazu ableiten, wie Systeme aufgebaut sind, die sich bei Krisen resilient verhalten, die widerstandsfähig und langfristig anpassungsfähig sind. Es gibt beispielsweise Grundprinzipien der Personalauswahl und -führung sowie der Organisationsstrukturierung und der Weiterentwicklung, die man gut implementieren kann.

Wie gehen Mitarbeiter mit ständiger Veränderung um? Führt das nicht auf Dauer zur Überforderung?

Das Beste ist, von vornherein Mitarbeiter zu gewinnen, die ein Interesse daran haben, sich weiterzuentwickeln und zu lernen. Doch bei einem generell positiven Framing von Weiterentwicklung im Unternehmen verstehen Menschen durchaus, dass sie selber vom Wandel profitieren.

Für Resilienz ist das Prinzip der Selbstorganisation und Selbstverantwortung entscheidend. Das bedeutet, nicht alles von oben herab und rein hierarchisch vorzuschreiben. Es ist wichtig, Mitarbeitern den Freiraum zu geben, dort Kompetenzen aufzubauen, wo sie es selbst für richtig halten.

Einige Unternehmen beginnen gerade erst, das Thema Resilienz in ihren Steuerungssystemen zu etablieren. Wie und wo sollten sie ansetzen?

Auf strategischer Ebene lautet die Frage, ob es innerhalb der Organisation Prozesse gibt, mit denen man sich für die Zukunft wappnen kann. Ist es beispielsweise möglich, Umweltsignale einzubeziehen und ökologische, technische, aber auch sozialgesellschaftliche Trends zu erkennen? Derartige Reports sind ein erster wichtiger Ansatz. Das Ganze sollte sich im besten Fall nicht auf einen kleinen Stab von Experten reduzieren. Man sollte versuchen, das in der Organisation vorhandene oder neu gewonnene Wissen möglichst breit zu nutzen, zusammenzutragen und zu systematisieren, um sich auf eine unsichere Zukunft einstellen zu können.

Es muss auch von der Unternehmensführung vorgelebt werden, dass man Unsicherheit akzeptieren und nicht glauben sollte, alles selbst zu wissen.
Dr. Florian Roth

Darauf aufbauend lässt sich der strategische Aufbau der Organisation überprüfen. Wie anpassungsfähig und robust sind wir? Haben wir Strukturen, die eine Selbstorganisation einzelner Bereiche ermöglicht? Da lässt sich auch Nachholbedarf identifizieren –beispielsweise wenn sich herausstellt, dass das Recruiting eher für interne Monokultur sorgt statt für Teams mit vielfältigen Hintergründen. Der Diversitätsgedanke spiegelt sich auch in der Resilienzforschung wider. Und es muss auch von der Unternehmensführung vorgelebt werden, dass man Unsicherheit akzeptieren und nicht glauben sollte, alles selbst zu wissen.

Sind Sie optimistisch, dass Gesellschaft und Unternehmen sich die Zeit nehmen werden, aus der Corona-Krise zu lernen?

Wenn etwa Investitionen mit einem „European Green New Deal“ verknüpft und in Einklang mit Nachhaltigkeitszielen gebracht werden sollen, halte ich das für ein positives Signal. Das ist ein Ansatz, bei dem die Politik bei Bürgern Verständnis dafür erntet, dass es kein Zurück gibt. Ähnlich erleben wir Diskussionen und Veränderungen zu den Bedingungen in der Fleischindustrie. Um es kurz zu sagen: Ja, ich bin schon ein wenig optimistisch.

Fazit

Die Corona-Krise legt nicht nur die Schwächen vieler politischer und gesellschaftlicher Strukturen offen. Sie zeigt auch, welche soziotechnischen Systeme besonders gut für Krisen gewappnet sind. Resilienzforscher Dr. Florian Roth findet: Neben einem Ende der Fixierung auf Effizienz braucht es auch mehr Freiräume für die einzelnen Mitarbeiter, damit diese stärker interessengetrieben ihre Organisation verbessern können.

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