9 Minuten Lesezeit 1 Februar 2021
Nahaufnahme von beleuchteten Lichtleitern auf der Platine eines Laptops

Wie Quantencomputer eine verlässlichere Steuerwelt schaffen können

Von Ute Benzel

Leitung Tax & Finance Operate and Legal Managed Services | EY Europe West

Ute Benzel steht für Teaming und dafür, mutig und neugierig langfristigen Erfolg sicherzustellen. Sie lebt in Köln, fährt Snowboard und Ski, segelt und spielt Tennis.

9 Minuten Lesezeit 1 Februar 2021

Mithilfe neuartiger Supercomputer ließe sich die Lenkungswirkung von Steuern weltweit besser berechnen. Politik und Unternehmen könnten profitieren.

Überblick
  • Der Einsatz neuer Technologien würde in der Steuerwelt einen ökologischen, ökonomischen und sozialen Mehrwert schaffen.
  • Die potenzielle Rechenleistung eines Quantencomputers könnte hier eine zentrale Rolle spielen.
  • Visionen sind nicht nur erlaubt – sie sind geboten.

Brasilien führt eine neue Steuerregelung ein, in der Wirtschaftsmetropole São Paulo knallen die Sektkorken. Zeitgleich verdüstern sich in Mexiko die Mienen und europäische Konzerne ändern ihre Standortentscheidungen, um die effektive Steuerbelastung (ETR, Effective Tax Rate) umgehend zu senken. Alles in Echtzeit – soweit die Vision. Was für den Head of Tax indes durch den Einsatz von ERP-Systemen schon in greifbare Nähe rückt, ist aufseiten der Politik und die sie beratende Wissenschaft noch Zukunftsmusik. Denn um globale Veränderungen regionaler oder nationaler Steuerentscheidungen in Verbindung mit ökonomischen und sozialen Parametern in kürzester Zeit zu modellieren, dafür fehlt es derzeit sowohl an verfügbaren Daten als auch an leistungsfähigen Rechnern. Die rasanten Fortschritte bei der Entwicklung von Quantencomputern lassen es aber möglich erscheinen, dass auch die Steuerwirkungslehre in absehbarer Zukunft hier einen Quantensprung machen wird.

Segensreiche Leistung

Quantencomputer sollen Probleme lösen, die aufgrund ihrer Vielzahl von Variablen herkömmliche Rechner an ihre Grenzen bringen. In der Arzneimittelforschung beispielsweise könnte eine Vielzahl von Wirkstoffkombinationen schneller getestet werden. Im Straßenverkehr ließe sich für jeden Verkehrsteilnehmer eine optimale Route in Echtzeit kalkulieren, was gut für den Verkehrsfluss und für das Klima wäre. Grundsätzlich könnten Quantencomputer zusammen mit künstlicher Intelligenz viele Innovationen anstoßen und die Wirtschaftswelt wie auch den Steuerkosmos dramatisch verändern. Denn, wenn immer mehr Daten vorliegen, braucht es immer mehr Rechenleistung und ermöglicht gleichzeitig eine viel detailliertere und in die Zukunft gerichtete Modellierung der Auswirkungen wirtschaftlicher Entscheidungen.

  • Zukunftstechnologie Quantencomputer

    Quantencomputer funktionieren grundlegend anders als herkömmliche Rechner. Klassischerweise erfolgt die Weitergabe von Informationen durch einen binären Code, der eine Abfolge von Nullen und Einsen darstellt. Bei Quantencomputern kann das sog. Quantenbit, oder kurz Qubit, alle Werte zwischen 0 und 1 annehmen und enthält damit deutlich mehr Information als ein normales Bit. Forscher haben bereits gezeigt, dass Quantenrechner komplexe mathematische Probleme lösen können, die für heutige Supercomputer nicht lösbar sind. Allerdings sind die Zustände und Prozesse in einem Quantencomputer sehr fragil und funktionieren nur unter ganz bestimmten Rahmenbedingungen. Es muss ein besonderes Umfeld geschaffen werden, in dem zum Beispiel ein Vakuum besteht oder die Temperatur nahe dem absoluten Nullpunkt von minus 273 Grad Celsius liegt. Deutschland treibt die Entwicklung dieser Zukunftstechnologie voran. So hat die Bundesregierung im Rahmen ihres Konjunkturpakets 2 Milliarden Euro für die weitere Forschung und den Bau von Quantencomputern zugesichert. Gemeinsam mit der Fraunhofer-Gesellschaft und IBM soll der erste Quantencomputer auf europäischem Boden Anfang 2021 fertiggestellt sein. 

Vielschichtigkeit von Besteuerungswirkungen

Zu den notwendigen Aufgaben eines Gemeinwesens gehört es eben auch, Steuern zur Finanzierung der Staatsausgaben zu vereinnahmen. Derweil versuchen Unternehmen und Privatpersonen, ganz legal ihre effektive Besteuerung zu minimieren, etwa durch ihre Standortwahl und partizipieren vom Steuerwettbewerb zwischen Regionen und Nationen. Die Steuerwirkungslehre bildet das Herzstück einer wissenschaftlichen Befassung mit Steuern und im Wesentlichen mit der Frage, wie sich Änderungen in Steuersystemen auf die Anpassungsreaktionen von Unternehmen auswirken. Es geht darum, wie Unternehmen und andere Akteure hinsichtlich der Ankündigung oder Wahrnehmung von Steuerrechtsänderungen reagieren. Ausgehend hiervon können mithilfe der Steuerwirkungslehre wichtige Aspekte der Besteuerung wie etwa Steuergerechtigkeit oder Fragen der internationalen Besteuerung behandelt werden.

So wäre es für die weitere Entscheidungsfindung schon heute sinnvoll, bei supranationalen Modellen, wie der auf EU-Ebene vorangetriebenen Gemeinsamen konsolidierten Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage (GKKB), wesentliche Modellvarianten zu prüfen.

Unternehmen müssten demnach die Regelungen eines einheitlichen EU-Steuersystems befolgen und nur noch eine Steuererklärung für alle ihre Einkünfte in der EU abgeben, anstatt in jedem Mitgliedstaat einzeln („One Stop Shop“). Dieser konsolidierte steuerliche Gewinn soll dann auf Basis einer Formel zwischen den Mitgliedstaaten aufgeteilt werden, in denen das Unternehmen aktiv war. Die Finanzbehörden der jeweiligen Mitgliedstaaten müssen dann nur noch den jeweiligen nationalen Körperschaftsteuersatz auf den ihnen zugewiesenen Gewinnanteil anwenden. Da dieses Vorgehen für die größten Unternehmensgruppen (gemessen am Umsatz) verpflichtend wäre, soll das System vor allem die Steuervermeidung durch Gewinnverlagerungen eindämmen. Nicht nur politische Erwägungen zur Wahrung der Steuersouveränität, sondern auch praktische Umsetzungsprobleme sorgen jedoch dafür, dass das Vorhaben seit Jahren festhängt und trotz großen Potenzials nur sporadisch aus dem Hut gezaubert wird. Insbesondere steht die Frage im Raum, wie der Umfang der „Aktivität“ in den einzelnen Mitgliedstaaten bemessen werden soll, auf dessen Basis die Besteuerungsrechte zugeteilt werden.

Datenhunger

Die EU hegt großes Interesse daran, mit den notwendigen Informationen versorgt zu werden, die für Besteuerungsentscheidungen relevant sind. Und es werden immer mehr Berichtspflichten und somit Datenmenge erzeugt. Mit der EU-Amtshilfe wurde bereits im Jahr 2011 der seither kontinuierlich erweiterte Austausch von Informationen zwischen den Mitgliedstaaten, die für die Anwendung und Durchsetzung des innerstaatlichen Steuerrechts erheblich sind, initiiert. Die Daten werden von den Steuerpflichtigen selbst mittels auferlegter Transparenzpflichten erhoben oder auch aus Betriebsprüfungen gewonnen, in denen grenzüberschreitend steuererhebliche Informationen ermittelt wurden, die dem betreffenden Staat womöglich unbekannt sind. Was mit einem einfachen Austausch verfügbarer Informationen begann, hat sich schnell auf Steuervorbescheide mit grenzüberschreitender Wirkung und auf Vorabverständigungen über die Verrechnungspreisvereinbarungen (sog. Tax Rulings) ausgeweitet: länderbezogene Berichterstattung für multinationale Unternehmen (sog. Country-by-Country Reports), Informationen über das wirtschaftliche Eigentum und die prominente Mitteilungspflicht grenzüberschreitender Steuergestaltungen (DAC6). Das jüngste geplante Projekt zur Erweiterung des Informationsaustauschs ist eine Meldepflicht für Plattformbetreiber, die Informationen über Verkäufe auf ihren elektronischen Plattformen zur Verfügung stellen sollen. Noch ist die Datensammlung, Übermittlung und Auswertung jedoch ein komplexer Prozess, der derzeit weit entfernt von einer übersichtlichen Echtzeitinformationslage ist, jedoch werden neu definierte Schnittstellen und Systeme zwischen Steuerpflichtigen und Finanzverwaltung dies in absehbarer Zukunft ebnen.

Zunehmende öffentliche Transparenz

Ebenfalls für eine zunehmende Steuertransparenz soll das in der EU diskutierte öffentliche Country-by-Country Reporting sorgen, welches eine Weiterentwicklung des BEPS-Projekts zur Bekämpfung von sog. aggressiver Steuergestaltung und Gewinnverschiebungen ist. Demnach sollen alle in der EU tätigen internationalen Unternehmen mit jährlich mehr als 750 Millionen Euro Umsatz verpflichtet werden offenzulegen, wie viel Steuern sie auf welche Erträge in welchem Staat bezahlen. Ein Entwurf zur länderbezogenen Offenlegung der Steuerzahlungen von Unternehmen liegt dem EU-Ministerrat vor und dürfte demnächst ins Parlament eingebracht werden. 

Das Problem bleibt jedoch im Kern dasselbe. Die Umsetzung dieser Systeme wird nur möglich sein, wenn neben den politischen Regularien auch die nötige Technologie zur Verfügung steht, um Transparenz und Fairness zu gewährleisten und eine entsprechende Mitteilung durch Unternehmen ohne Systembrüche und mit minimalem Aufwand zu ermöglichen. 

Neuverteilung

Hinzu kommen globale Ansätze etwa auf OECD-Ebene mit Pillar 1 und 2 des BEPS-Projekts, bei dem die Staatengemeinschaft um eine Besteuerung der Digitalwirtschaft und um einer Mindestbesteuerung ringt und sich eventuell in diesen Monaten auf der Zielgeraden einer Einigung befindet. Oder auch der Common Reporting Standard (CRS), einem internationalen Verfahren zum Austausch von Finanzkonteninformationen, wird seinen Teil dazu beitragen, dass immer mehr Daten vorliegen und das Steuerrecht in den kommenden Jahren grundlegend verändert werden wird.

Das Problem bleibt jedoch im Kern dasselbe. Die Umsetzung dieser Systeme wird nur möglich sein, wenn neben den politischen Regularien auch die nötige Technologie zur Verfügung steht, um Transparenz und Fairness zu gewährleisten und eine entsprechende Mitteilung durch Unternehmen ohne Systembrüche und mit minimalem Aufwand zu ermöglichen. Die potenzielle Rechenleistung eines Quantencomputers könnte hier eine zentrale Rolle spielen – gerade auch, um vorab mögliche Folgen für die Verteilung des Steuersubstrats zu simulieren.

Steuerliche Wirkungsanalysen sind auch deshalb gefordert, weil im Zuge der Pandemiebekämpfung die Staatsverschuldung in allen Ländern in die Höhe schnellt und gesellschaftspolitische Herausforderungen wie Klimawandel und demografische Entwicklung auch die Steuerwelt betreffen. Der Datenhunger ist enorm und der Bedarf an verlässlichen Wirkungsanalysen groß.

ADIMA – Big Data im großen Stil

Seit kurzem versucht die OECD selbst, solche Daten zu ermitteln und zu analysieren. Nicht anders ist die Initiative ADIMA zu erklären. Dabei steht das Kürzel ADIMA für Analytical Database on Individual Multinationals and Affiliates. Es geht darum, 500 multinationale Unternehmen unter die Lupe zu nehmen und zu verstehen, wo sich die Unternehmen und ihre Wertschöpfungsketten auf der Welt befinden, wie sie arbeiten und wo sie Steuern zahlen. Dazu hat die in Paris ansässige Organisation ihre Datenanalysten, Statistiker, Informatiker und Programmierer in einer Projektgruppe zusammengebracht und vor zwei Jahren eine Datenbank installiert. Begründet wird das Vorgehen damit, dass bisher nur wenige amtliche Statistiken zu einzelnen multinationalen Unternehmen vorlägen und deren Verhalten eine zunehmend wichtige Bedeutung für einzelne Länder habe. Die OECD will die Datenbank kräftig ausbauen und über die in Unternehmensberichten üblichen Informationen hinausgehen, indem sie offene Big-Data-Quellen wie Jahresabschlüsse, Thomson Reuters, Internetseiten und Wikidata auswertet. In ersten veröffentlichten Berichten, in denen zunächst nur die Top-100-ADIMA-Unternehmen untersucht wurden, wurde durch Datenanalyse in Open-Source-Quellen festgestellt, dass 85 von 100 Unternehmen in Großbritannien aktive Geschäftstätigkeiten hatten, jedoch offizielle Jahresabschlüsse nur 75 Firmen auswiesen.

Die Beispiele geben einen Einblick in die staatlichen Bemühungen, verlässliche Daten zu sammeln, damit sie sich ihren Anteil am Steuersubstrat sichern können, um Staatsausgaben auch zukünftig finanzieren zu können. Doch gibt es aktuell überhaupt ausreichend Rechenkapazitäten, wenn all diese Daten vorliegen würden? Lassen heutige Computer umfassende Wirkungsanalysen zu, die bis in die tiefsten Verästelungen unternehmerischen Handeln überall auf der Welt reichen? 

Vision für das Jahr 2050

Nehmen wir an, Quantencomputer wären künftig universell einsetzbar. In Anbetracht der vielfältigen ökologischen, sozialen und wirtschaftlichen Herausforderungen auf der Welt, aber auch eines Wettbewerbs um staatliche Einnahmequellen, könnten die Superrechner auch dazu dienen, einen globalen Ansatz für alle unternehmensbezogenen Steuern zu finden, der wirtschaftliche Fairness schafft. Theoretisch wäre eine Verbindung von leistungsfähigem Quantencomputing und komplizierten internationalen Steuerregeln möglich, auch wenn in der Praxis der dafür notwendige politische Kompromiss eine mindestens genauso hohe Hürde wäre wie die Anwendung der Technologie.

Visionen sind nicht nur erlaubt – sie sind geboten. So sollten etwa im Jahr 2050 die Ausgleichs- und Lenkungsfunktionen nationaler Besteuerungssysteme auf ein globales, einheitliches, alle unternehmensbezogenen Steuern betreffendes System ausgeweitet werden. Bislang ist ein solches System schon aus technischer Perspektive kaum umsetzbar. Heutige Rechner sind nicht schnell genug, um auf der Basis von Gesetzesänderungen die Steuerwirkungen in Echtzeit, weltweit und für jeden Staat einzeln aufzuzeigen und die Durchsetzung der Regelungen zu überwachen. Eine Vielzahl sehr leistungsfähiger Quantencomputer hingegen könnte große Datenmengen deutlich schneller analysieren und auswerten.

Ein konkretes Anwendungsbeispiel: Kommunen finanzieren ihren Haushalt größtenteils aus Gewerbesteuereinnahmen, die jedoch konjunkturbedingten Schwankungen unterliegen. Mithilfe von Quantencomputern könnten anhand einer Vielzahl von Variablen die erwarteten Einnahmen der Unternehmen und damit der Kommunen prognostiziert und durch einen Zuschlag zur Ertragsteuerbelastung erhoben werden. So könnte etwa vermieden werden, dass notwendige Sanierungen öffentlicher Einrichtungen um Jahre verschoben werden müssen. Grundlage für Verteilungen zwischen den Kommunen könnten Rechenmodelle sein. In der aktuellen Pandemiesituation mag keine größere Ladenkette an eine Umverteilung von reichen zu armen Kommunen denken, jedoch wird es irgendwann wieder darum gehen, Einkaufsmeilen und Marktplätze mit Leben zu befüllen.

Auch bei der anstehenden Grundsteuerreform in Deutschland sind Daten zu Immobilien und Flächen dringend gesucht. Die Öffnungsklausel ermöglicht es Bundesländern, vom Bundesgesetz abweichende Grundsteuerreformen auf den Weg zu bringen. Einzelne Bundesländer veröffentlichen bereits erste Gesetzentwürfe. Jedoch wären alle auf der sicheren Seite, wenn Immobiliendaten vorlägen und die Länder nicht anhand verschiedener Modelle künftige für ihre Einnahmen wertbildende Attribute zur Steuerfestsetzung generieren müssten.

Aus politischer Sicht wäre die Realisierung eines globalen Steuerleitsystems eine Herkulesaufgabe. Neue nationale und internationale Normen müssten festgesetzt, Bemessungsgrundlagen definiert und Kontrollgremien einberufen werden. Jedoch zeigt das BEPS-Projekt, dass eine engere Zusammenarbeit in sensiblen, tief in die nationale Souveränität eingreifenden Steuerfragen durchaus möglich wäre oder aber anonymisierte Daten den Entscheidungsträgern in Echtzeit zur Verfügung stehen könnten.

Fazit

Der Einsatz von Quantencomputern würde in der Steuerwelt einen ökologischen, ökonomischen und sozialen Mehrwert schaffen. Politik und Wirtschaft sollten die Möglichkeiten der Zukunftstechnologie auf der Agenda haben, selbst wenn diese noch in weiter Ferne zu liegen scheinen. Vor ein paar Jahren hat es auch noch niemand für möglich gehalten, dass künstliche Intelligenz Einzug in unternehmerische Entscheidungsprozesse findet.

 

Dieser Artikel ist zuerst im Fachmagazin beck.digitax Heft 6/2020 erschienen.

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