6 Minuten Lesezeit 1 Dezember 2022
Frau arbeitet in einer chill out Zone eines Büros

EY-Studie „Work Reimagined 2022“: Warum Firmen eine neue Ära erwartet

Von Markus Heinen

Leiter People Advisory Services, Ernst & Young GmbH Wirtschaftsprüfungsgesellschaft | Europe West

Ist Innovationstreiber und Technologie-Enthusiast. Sieht Purpose, Leidenschaft und Innovation als wesentliche Faktoren für nachhaltigen und wirtschaftlichen Erfolg.

6 Minuten Lesezeit 1 Dezember 2022

Die Nachfrage nach Hybrid Work steigt ebenso wie die Mitarbeiterfluktuation.  

Überblick
  • Hybrid Work, hohe Mitarbeiterfluktuation, Inflation: Für die Unternehmen bricht beim Talent- und Workforce-Management ein neues Zeitalter an.
  • Um künftig im War for Talents bestehen zu können, müssen Firmen an Modellen für Hybrid Work ebenso wie an ihrer Unternehmenskultur arbeiten.   
  • Eine zentrale Bedeutung kommt dem Purpose zu. Das gemeinsam entwickelte Leitbild schafft sowohl Identifikation als auch zielgerichtete Motivation.

Von den in Deutschland befragten Beschäftigen erklären 38 Prozent, dass sie ihre derzeitige Arbeitsstelle wahrscheinlich im kommenden Jahr kündigen werden, ein Jahr zuvor waren es noch 6 Prozent. Der „EY Work Reimagined Survey 2022“ zeigt eine dramatisch gestiegene Mitarbeiterfluktuation und bei Unternehmen im Hinblick auf ihr Talent- und Workforce-Management großen Nachholbedarf auf. Markus Heinen, Leiter People Advisory Services für Europe West, erklärt im Interview, welches die drängendsten Herausforderungen sind und wie Firmen darauf reagieren sollten.

EY: Eine zentrale Schlussfolgerung aus der EY-Studie „Work Reimagined 2022“ lautet: Wir stehen am Beginn einer neuen Ära. Was hat sich während der zwei Jahre Pandemie so fundamental verändert?

Markus Heinen: Die Studie zeigt sehr deutlich: Aufgrund der Corona-Pandemie und der neuen technologischen Möglichkeiten ist bei den Beschäftigten die Fantasie entstanden, dass sie nun völlig anders arbeiten können als in den Dekaden zuvor. Sie haben sich an die Vorzüge der Arbeit im Homeoffice gewöhnt, schätzen die neue Freiheit und die Zeit, die sie mit ihrer Familie verbringen können, ebenso wie die gemäßigteren Immobilienpreise im Umland. Mittlerweile ist Remote Work für die meisten Beschäftigten nicht mehr nur eine komfortable Option, sondern eine Erwartungshaltung: 84 Prozent der Befragten möchten mindestens zwei Tage pro Woche im Homeoffice arbeiten.
Zweitens unterstreicht die Studie, dass der schon lange bekannte, nun aber in den Unternehmen mit großer Wucht angekommene Fachkräftemangel enorme Auswirkungen auf die Einstellung der Beschäftigten zu ihrem Unternehmen hat. So gibt es derzeit auf dem Arbeitnehmermarkt ein Überangebot an Jobs und damit eine extrem erhöhte Wechselbereitschaft. Beide Entwicklungen zusammen erhöhen den Druck auf die Firmen immens. Sie müssen hybride Arbeitswelten schaffen, in denen sich die Mitarbeitenden wohlfühlen. Zugleich müssen sie darauf achten, dass sich die Beschäftigten trotz des hohen Anteils an Remote-Arbeit mit ihrem Unternehmen identifizieren. Andernfalls erhöht sich das Risiko, dass die Mitarbeitenden ihren Arbeitgebern den Rücken kehren, dramatisch.

Woman working in office chill out zone

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Unsere Art zu arbeiten und unsere Einstellung zur Arbeit haben sich grundlegend verändert. Prioritäten und Lebensperspektiven werden neu definiert. Es ist der Beginn einer neuen Ära, die neue Möglichkeiten bietet und nach Antworten auf die Fragen sucht, wie und warum wir arbeiten und welcher Art von Arbeit wir nachgehen möchten.

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EY: Diese Gefahr wird in der Studie deutlich beziffert: 38 Prozent der in Deutschland befragten Beschäftigten erklären, dass sie ihre derzeitige Arbeitsstelle wahrscheinlich im kommenden Jahr kündigen werden – bei den Millennials sind es sogar 42 Prozent. Haben die Unternehmen also falsch auf die neue Ära reagiert?

Markus Heinen: In der Tat hat ein Großteil der Firmen in den vergangenen beiden Jahren noch nicht herausgefunden, wie die ideale hybride Arbeitsweise aussieht. Manche stoßen derzeit steuerungs- und führungstechnisch sogar so stark an ihre Grenzen, dass sie die Beschäftigten wieder ins Büro zurückholen wollen, was wiederum viele Mitarbeitende demotiviert. Was hingegen bei der Arbeit auf Distanz fehlt, sehen wir sehr deutlich, wenn sich Teams wieder physisch treffen und auch über private Themen geredet wird: Wie geht es dir? Was macht deine Familie? Wie geht der Hausbau voran? Technologien können diese persönlichen Gespräche nicht ersetzen. Die Firmen werden noch sehr viel gezielter in den Austausch vor Ort investieren müssen, um das Zugehörigkeitsgefühl der Beschäftigten wieder zu stärken.
Grundsätzlich sind Empathie und emotionaler Support wichtiger denn je, die Menschen müssen sich im Unternehmen sicher fühlen. Genau hier lauert allerdings schon die nächste Gefahr: Gerade in einer Zeit, in der eine Krise auf die nächste folgt, konzentrieren sich die Unternehmen wieder sehr stark auf ihre Finanzkennzahlen und stellen den Menschen weniger in den Mittelpunkt statt mehr. Das ist ein Riesenfehler. Dann kündigen die Firmen zum Beispiel ihren Beschäftigten in der Krise und bekommen sie nicht mehr zurück, wenn das Geschäft wieder anzieht. Das sehen wir gerade sehr eindrücklich bei den Airlines und in der Gastronomie.

Mitarbeiterfluktuation

38%

der befragten Beschäftigten werden wahrscheinlich den Job wechseln.

EY: Airlines, Gastronomie und auch die Pflege sind besonders plakative Beispiele dafür, dass die Beschäftigten den Unternehmen den Rücken kehren. Kann man diese Entwicklung auch zum Beispiel in den IT-Bereichen der Firmen beobachten?

Markus Heinen: Zumindest die Verunsicherung der Beschäftigten zieht sich durch alle Branchen und Bereiche. Die Automobilindustrie etwa kommuniziert das Ende des Verbrennungsmotors für das Jahr 2035. Aber was passiert denn dann mit denjenigen, die in diesen noch immer großen Bereichen tätig sind? Wenn die Automobilhersteller das Problem nicht lösen und nicht an der Mobilität der Zukunft arbeiten, werden auch hier vor allem die guten Talente gehen. Oder anders formuliert: Wenn das Management keine Perspektive entwickelt, kann es von den Beschäftigten nicht erwarten, dass sie das selbst tun.

EY: Zu dieser Entwicklung passt, dass nur 48 Prozent der Beschäftigten ihrem Arbeitgeber das Vertrauen aussprechen. Kommt also auch in Sachen Unternehmenskultur noch viel Arbeit auf die Firmen zu?

Markus Heinen: Auch im Hinblick auf die Firmenkultur gibt es ganz grundsätzliche Versäumnisse. Vor dem Hintergrund der aufgezeigten Entwicklungen müssen sich Firmen sehr viel stärker fragen: Was für eine Kultur will ich denn eigentlich schaffen? Welche Führungskultur will ich etablieren? Ebenso geht es darum, mit den Mitarbeitenden einen schlagkräftigen Purpose zu entwickeln, der als Leitmotiv wie auch als Inspiration und Aufforderung zugleich dient. Denn wichtig ist natürlich auch, dass die Beschäftigten für die Ziele des Unternehmens brennen. Ihnen nur eine Umgebung zu bieten, in der sie komfortabel remote arbeiten können, wird nicht ausreichen. Auch das zeigt die Entwicklung der vergangenen Jahre sehr deutlich: So ist am Anfang der Pandemie die Produktivität gestiegen, weil sich die Mitarbeitenden in der neuen, unsicheren Situation beweisen wollten. Mit der Zeit aber haben sie sich an die neue Arbeitswelt gewöhnt und sich zum Teil verstärkt ins Private zurückgezogen. Durch diese Entwicklung verharrt die Produktivität nun auf einem Niveau, das viele Arbeitgeber dazu treibt, die Beschäftigten wieder zurück in die Büros zu holen. Doch auch das wird nicht funktionieren, da die Konkurrenz auf dem leer gefegten Arbeitsmarkt nicht zuletzt mit Remote-Arbeit und Workation-Angeboten um Talente wirbt.

Nur 48 Prozent der Befragten sprechen ihrem Arbeitgeber das Vertrauen aus. Dieser Wert ist in Zeiten hoher Mitarbeiterfluktuation äußerst gefährlich.
Markus Heinen
Leiter People Advisory Services, Ernst & Young GmbH Wirtschaftsprüfungsgesellschaft | Europe West

EY: Zum Zeitpunkt der Befragung war das Thema Inflation in Deutschland noch nicht so dominant. Dennoch haben bereits 32 Prozent der Beschäftigten höheren Gehältern eine wichtige Bedeutung beigemessen, um die hohe Fluktuation einzudämmen. Bei den Unternehmen sahen dies nur 8 Prozent so. Wie realistisch ist das aus heutiger Sicht?

Markus Heinen: Zumindest momentan ist das stark zu bezweifeln. Wenn die Unternehmen die Gehälter nicht aufstocken, verlieren sie noch mehr Talente, weil gute Fachkräfte in anderen Firmen mehr verdienen können.

EY: Betrachtet man das Gesamtbild aus der großen Verunsicherung, der Wechselwilligkeit der Beschäftigten und der zunehmenden Digitalisierung – wie können sich Unternehmen in diesem herausfordernden Umfeld behaupten?

Markus Heinen: Hybrides Arbeiten wird fester Bestandteil des Arbeitsalltags werden, deshalb sollten Arbeitgeber ein konkretes Konzept dafür erstellen. Dabei sollte auch dem Wunsch der Beschäftigten nach sozialen Kontakten und Weiterbildung sowohl im Büro vor Ort als auch am virtuellen Arbeitsplatz Rechnung getragen werden. Zudem sollten Arbeitgeber ihre Vergütungs- und Karrieremodelle neu gestalten, um auf den arbeitnehmerfreundlichen Arbeitsmarkt zu reagieren. Sie brauchen aber auch – gerade im mittleren Management – eine neue Führung mit der Fähigkeit, Veränderung besser zu kommunizieren und mit mehr Vision und Empathie zu führen. Hier geht es auch viel darum, die Beschäftigten emotional zu unterstützen und psychologische Sicherheit zu schaffen. Ebenso zentral ist die Entwicklung eines Purpose, der – wenn er gut gemacht wird – Identifikation mit dem Unternehmen schafft und die Verbundenheit mit dem Arbeitgeber stärkt. Wichtig ist es jedoch auch, das entwickelte Leitmotiv in konkrete Ziele für den Arbeitsalltag zu übersetzen. Hier sehen wir sehr viel Potenzial für die OKR-Methode (Objective and Key Results). Damit lassen sich in der gesamten Workforce Ziele vereinbaren, die Outcome-orientiert und konkret messbar sind und sich kontinuierlich an sich stets ändernde Bedingungen anpassen lassen.

Fazit

Die EY-Studie „Work Reimagined 2022“ zeigt: Im zweiten Jahr der Pandemie ist in den Unternehmen die Wechselwilligkeit der Beschäftigten dramatisch gestiegen. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass sich die Unternehmen nicht ausreichend mit hybriden Modellen der Zusammenarbeit beschäftigt und dass sie ihre Firmenkultur vernachlässigt haben. Auch in der derzeit unsicheren wirtschaftlichen Situation müssen Unternehmen die Mitarbeitenden ins Zentrum stellen. Andernfalls verlieren sie ihre Talente und bekommen sie – auch wenn der Markt wieder anzieht – nicht zurück.

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