6 Minuten Lesezeit 2 Juni 2020
Autos in der Produktion

Welche Lehren die Automobilindustrie aus der Corona-Krise ziehen kann

Von Constantin Gall

Managing Partner Strategy and Transactions

Hat jahrzehntelange Erfahrung in der Strategie- und Transaktionsberatung sowie in der Automobilbranche. Ist auch privat ein Autoenthusiast und geht gerne mit Familie und Freunden auf Reisen.

6 Minuten Lesezeit 2 Juni 2020

Weltweit hat die Produktion in den Autowerken eine Vollbremsung hingelegt. Die ersten zaghaften Wiederanläufe zeigen das Ausmaß der Misere – fragile Lieferketten sowie verstopfte Absatzkanäle.

Wie stark die Bremsspur am Ende wird, ist noch unklar. Doch schon jetzt zeichnen sich einige Entwicklungen ab. Neue Kommunikationsmöglichkeiten werden künftig viele Dienstreisen ersetzen und die Branche benötigt staatliche Hilfen, die es aber ohne ein umweltschonendes Nachhaltigkeitsversprechen nicht geben wird. Zudem beschleunigt die Krise den Technologiewandel zu alternativen Antriebsformen. Während der Corona-Pandemie hat die Produktion in den Autowerken weltweit eine Vollbremsung hingelegt. Die ersten zaghaften Wiederanläufe zeigen zunehmend das Ausmaß der Misere: Fragile Lieferketten einer sonst Just-in-time-Industrie treffen auf verstopfte Absatzkanäle. Erschwerend hinzu kommt die hochkontroverse Diskussion, ob und in welcher Form wirtschaftspolitische Anreize für diese Schlüsselindustrie aufgelegt werden sollen, können oder müssen. Wie stark die Bremsspur am Ende wirklich ist, ist noch unklar. Doch schon jetzt zeichnen sich einige kurz- und längerfristige Entwicklungen ab.

Trotz der Lockerungen im Umgang mit der Pandemie halten sich Unternehmen und private Haushalte aktuell mit dem Autokauf zurück. Angesichts massiver Umsatzeinbußen bei Unternehmen, Kurzarbeit und der Angst vor einem Arbeitsplatzverlust, steht ein Neuwagen nicht ganz oben auf der Prioritätenliste der Verbraucher. Wer sich dennoch ein Fahrzeug zulegt, kann auf hohe Rabatte der Händler hoffen. Es ist die Stunde der Schnäppchenjäger. Alle anderen warten erst einmal ab, was an staatlicher oder unternehmensseitiger Förderung für sie herausspringt.

Eines ist gewiss: Je länger die Unsicherheit dauert, desto schwerwiegender die Folgen für die Automobilindustrie. Jenseits der kurzfristigen Entwicklungen wird die Corona-Pandemie die gesamte Branche auch langfristig verändern.

Menschen sind derzeit weniger unterwegs – und wenn, dann lieber alleine

Zum einen erlebt der Individualverkehr eine kleine Renaissance. Aus Sorge vor einer Ansteckung mit dem Coronavirus meiden die Menschen öffentliche Verkehrsmittel. Wer kein eigenes Auto hat, nutzt für notwendige Fahrten die Angebote von Car sharing- oder Mietwagenfirmen. Noch stärker zeichnet sich aber ein Trend zum autofreien Individualverkehr mit Fahrrad, E-Scooter oder zu Fuß ab. Ein Trend, der insbesondere in großen Städten wie London, Madrid oder New York forciert wird, indem ganze Stadtteile autofrei gemacht und stattdessen groß angelegte Fußgängerzonen und Fahrradwege errichtet werden. Die Frage ist, wie nachhaltig diese aktuellen Trends sind und wie sich die Mobilitätskonzepte für den Transport von vielen Menschen in den Städten einpendeln werden, sobald sich die Lage wieder normalisiert.

Gründe für Reisen

60-75 %

der Reisen sind dienstlich bedingt, etwa Kundenbesuche oder Mitarbeitermeetings.

Spannend dürfte die Frage sein, welche langfristigen Auswirkungen die Pandemie für das Reiseaufkommen insgesamt hat. Etwa 60 bis 75 Prozent der Reisen sind dienstlich: Kunden- und Lieferantenbesuche, Mitarbeitermeetings, Lokaltermine. Was bis vor Kurzem noch als unabdingbar galt, präsentiert sich durch das erzwungene Homeoffice in neuem Licht: Viele Mitarbeiter und Chefs erkennen, dass Telefon- und Webkonferenzen viele persönliche Treffen ganz gut ersetzen können. Wenn auch nur ein Teil von ihnen künftig auf Dienstreisen zugunsten der digitalen Kommunikation verzichtet, wären die Einbußen für Bahn-, Luftfahrtunternehmen, Flottenbetreiber oder Autovermieter deutlich spürbar.

Pandemie wird Bremsspuren hinterlassen

Die Corona-Pandemie trifft die Automobilindustrie in einer ohnehin schwierigen Zeit des Umbruchs. Die Entwicklung alternativer Antriebe und autonomer Fahrzeuge, verbunden mit dem Wandel der Geschäftsmodelle hin zu Mobilitätsdienstleistern, verschlingt Milliarden. Schon vor der Pandemie war nicht klar, welche und wann sich die Investitionen letztlich auszahlen würden. Der aktuelle Stillstand wird zum Scheideweg für die Branche – je nachdem, wie sich die nationalen Regierungen sowie internationale Staatengemeinschaften wie die EU hinsichtlich Subventionen für diese für viele Länder relevante Schlüsselindustrie positionieren. Im Falle einer großflächig angelegten Subvention der Technologiewende könnte dies

  1. zu einer deutlichen Beschleunigung der bisherigen Entwicklung alternativer Antriebe führen,
  2. die bis dato fehlende Zuversicht der Branche in die Wirtschaftlichkeit dieser Investitionen fördern und
  3. eine rasche und grundlegende Konsolidierung und Transformation der Autoindustrie im Sinne eines künftigen Mobilitätsökosystem zur Folge haben.

Wenn diese Aufgabe von allen Beteiligten klug orchestriert wird, kann dies einen historischen Wandel der gesamten Industrie von globalem Ausmaß zur Folge haben.

Die aktuelle Sorge, dass den Autobauern das Geld ausgehen könnte, sollte sich die Lage nicht bald wieder entspannen, ist angesichts noch fehlender industriepolitischer Konzepte durchaus berechtigt. Noch glauben einige Hersteller und Zulieferer, dass sich die Einbrüche alsbald wieder aufholen lassen, dass sich die Märkte in einiger Zeit wie auch nach Grippewellen wieder normalisieren. Doch Zweifel sind angebracht. Der Absatzeinbruch in China – für viele deutsche Autobauer einer der wichtigsten Märkte – ist schon jetzt enorm, auch wenn es hier jüngst wieder Silberstreifen am Horizont gab. Und wenn das Reich der Mitte hustet, hängen die deutschen Autobauer schnell am Tropf. Zudem stehen viele Regionen, in denen sich das Coronavirus derzeit ausbreitet, erst am Anfang der wirtschaftlichen Probleme, die China schon hinter sich hat. Der rasante Anstieg der Arbeitslosenzahlen in den USA gibt einen Vorgeschmack auf das, was noch folgt.

Unterstützung vom Staat nötig

Die Frage zu stellen, ob der Staat einspringen sollte, um Zigtausende Arbeitsplätze zu retten und Insolvenzen zu verhindern, ist philosophisch sicherlich berechtigt. In der Realität gibt es aber aktuell fast keine Alternative. Was hingegen offen diskutiert werden muss ist, wie die Art der Unterstützung ausfallen muss, um nicht nur ein kurzfristiges Strohfeuer wie bei der Abwrackprämie zu entfachen. Anstelle eines „cash for clunkers“-Programms wie 2008/2009, bei dem den Unternehmen der Branche direkt Geld zufloss, muss nun die einmalige Gelegenheit ergriffen werden, eine flächendeckende Industrietransformation durch innovative industriepolitische Maßnahmen zu steuern und zu unterstützen.

Durch innovative Industriepolitik kann der Staat nun das gesamte Mobilitätsökosystem umgestalten, statt nur einzelnen Akteuren unter die Arme zu greifen.

Auch dieses Mal werden ohne staatliche Unterstützung viele Unternehmen der Branche in Existenznöte geraten. Die Frage ist nur, an welcher Stelle der finanzielle Defibrillator angesetzt werden soll. Bei den Herstellern, den Zulieferern, den Händlern – oder bedarf es eines holistischen Ansatzes, das gesamte Mobilitätsökosystem zu verändern und die hierfür relevanten Protagonisten zu unterstützen? Statt den Unternehmen der Branche direkt Geld zu zahlen, wären Förderungen oder die Vorfinanzierung der Entwicklung alternativer Antriebe wie Elektro oder Wasserstoff ebenso denkbar wie die Unterstützung der Produktion leistungsstarker Batterien oder der Aufbau einer flächendeckenden Ladeinfrastruktur. Auch Steuererleichterungen für umweltfreundliche Fahrzeuge oder die vollständige Anrechnung der Investitionskosten auf die Steuerlast der Unternehmen können probate Mittel sein. Damit ließen sich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: Das eingesetzte Geld würde helfen, die Klimaziele zu erreichen und die gesamte Autoindustrie zu stützen.

Noch ist ebenfalls unklar, wie eine Wiederbelebung der Produktion funktionieren soll. Solange die Zulieferer keine Produkte liefern, können die Hersteller ihre Bänder nicht wieder anlaufen lassen. Doch Zulieferer können nicht in der bloßen Hoffnung produzieren, dass ihre Kunden ihnen die Ware abnehmen. Die Händler müssen öffnen, um verkaufen zu können. Auch die Zulassungsstellen müssen wieder arbeiten. Ein klassisches Henne-Ei-Problem. Vertreter der Branche forderten bereits ein koordiniertes Vorgehen – zumindest auf EU-Ebene, am liebsten weltweit.

Um die Branche nicht zusätzlich zu belasten, werden Stimmen laut, die CO2-Flottenregeln der EU zeitweilig außer Kraft zu setzen. Für die Branche ein schwieriger Spagat: Einerseits will sie nicht als Klimasünder dastehen. Davon zeugt das lautstarke Bekenntnis zu den Klimazielen. Andererseits wären Strafzahlungen in Milliardenhöhe eine zusätzliche Bürde. Eine mögliche industriepolitische Lösung wäre es, statt Strafzahlungen von der Autoindustrie Investitionen in gleicher Höhe in umweltfreundliche Technologien oder Mobilitätsinfrastruktur einzufordern.

Krise treibt Digitalisierung voran

Krisen waren schon immer ein Katalysator für Veränderungen. Wenn sich der aktuellen Situation wenigstens etwas Gutes abgewinnen ließe, dann, dass die COVID-19-Pandemie die Wirtschaft mit Turbogeschwindigkeit in die digitale Zukunft befördert. Corona zwingt viele Unternehmen und Institutionen, jetzt Innovation voranzutreiben. Arbeiten im Homeoffice ist selbst dort Pflicht, wo es noch vor wenigen Wochen undenkbar war. Die Autohersteller treiben die Digitalisierung beim Autoverkauf voran und arbeiten an flankierenden Dienstleistungen wie dem Hol- und Bringservice bei einer Testfahrt. Strategische Überlegungen, wie viel Hardware die Branche in Zukunft noch verkaufen kann und wie sich das Geschäftsmodell auf Mobilitätsdienstleistungen trimmen ließe, erfahren ganz neuen Nachdruck.

Abkehr von der Globalisierung?

Angesichts unterbrochener Lieferketten wird in Teilen der Automobilindustrie laut darüber nachgedacht, wie die Produktion resistenter werden kann. Selbst die heilige Kuh Just-in-time-Produktion steht auf dem Prüfstand, treten die Kosten eigener Lagerbestände zugunsten der Flexibilität in den Hintergrund. Schon ist die Rede von Reshoring statt Offshoring – also wieder selber produzieren statt weltweit einkaufen. Verfechtern des grassierenden Lokalpatriotismus in den USA, Russland oder der Türkei dürfte das Aufwind verschaffen. Was sie verschweigen ist, dass ihre Landsleute am Ende die Zeche in Form höherer Preise zahlen müssten. Langfristig lässt sich die Globalisierung wohl nicht zurückdrehen – auch nicht durch ein weltweites Virus.

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Fazit

Weltweit hat die Produktion in den Autowerken eine Vollbremsung hingelegt. Die ersten zaghaften Wiederanläufe zeigen das Ausmaß der Misere – fragile Lieferketten sowie verstopfte Absatzkanäle. Wie stark die Bremsspur am Ende wird, ist noch unklar. Doch schon jetzt zeichnen sich einige Entwicklungen ab. Neue Kommunikationsmöglichkeiten werden künftig viele Dienstreisen ersetzen und die Branche benötigt staatliche Hilfen, die es aber ohne ein umweltschonendes Nachhaltigkeitsversprechen nicht geben wird. Zudem beschleunigt die Krise den Technologiewandel zu alternativen Antriebsformen.

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