Nach COVID-19: Wollen Sie dabei zusehen, wie sich ein neuer „Normalzustand“ entwickelt – oder wollen Sie ihn mitgestalten?

Von EYQ

EYQ is EY’s think tank

By exploring “What’s after what’s next?”, EYQ helps leaders anticipate the forces shaping our future — empowering them to seize the upside of disruption and build a better working world.

9 Minuten Lesezeit 7 April 2020

Noch müssen Unternehmen die täglichen Herausforderungen bewältigen, die COVID-19 mit sich bringt, und versuchen, die nahe Zukunft zu planen. Aber sie sollten sich auch darauf einstellen, welche bleibenden Veränderungen das Virus bringen wird.

Die COVID-19-Pandemie zwingt uns zu beispiellosen sozialen und wirtschaftlichen Maßnahmen. Aber wenn sich wieder ein Gefühl von Normalität einstellt – wie wird dieses neue „Normal“ dann aussehen?

Noch ist es schwer zu bestimmen, welche Folgen COVID-19 langfristig haben wird. Aber es gibt vier primäre Bereiche, die wahrscheinlich weitreichende Veränderungen erfahren werden:

Eine Frau blickt auf eine Stadt bei Nacht
(Chapter breaker)
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Kapitel 1

Globalisierung und Handel

Weltweite Lieferketten haben an Glanz verloren – stattdessen richtet sich das Scheinwerferlicht auf Automatisierung und additive Fertigung.

Die COVID-19-Pandemie hat gezeigt, wie verwundbar global vernetzte Lieferketten sein können. Als besonders fragil erweisen sich jetzt vor allem Konstellationen, in denen ein Unternehmen von einem einzigen Zulieferer oder von einer Handvoll Zulieferer aus einem einzigen Land abhängig sind.

Mittelfristig wird die Pandemie Prozesse vorantreiben, die Risiken minimieren, indem sie den Gesundheitszustand von Mitarbeitern erfassen, Interaktionen zwischen Menschen reduzieren und Belüftungssysteme wie auch physische Barrieren verbessern. Unternehmen können sich durch das Einführen neuer Automatisierungstechnologien wie Robotik und KI-basierter Sichtprüfungssysteme Wettbewerbsvorteile sichern.

In der Welt nach der Krise könnte sich der Aufschwung additiver Fertigungsmethoden (3D-Druck) beschleunigen, denn diese bieten erhebliche Vorteile in puncto Geschwindigkeit, Kosten, Präzision und Materialverbrauch. Dies wiederum könnte neue oder veränderte Geschäftsmodelle ermöglichen – nicht nur in der Fertigung, sondern auch in damit verknüpften Bereichen wie der Logistik. Ebenso könnte es dazu führen, dass Unternehmen vom Offshoring ihrer Produktion zu einem Nearshoring übergehen – und so den Antiglobalisierungstrend verstärken, der seit einigen Jahren zu beobachten ist. 

Koordinatenmessgeräte werden programmiert
(Chapter breaker)
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Kapitel 2

Technologie und Innovationen

Die Pandemie könnte fundamental unser Denken darüber verändern, wo und wie wir arbeiten

Infolge von COVID-19 werden sich neue Technologien rasant durchsetzen. Aus Furcht vor Ansteckung werden viele Menschen lieber digital als mit Bargeld bezahlen. Abstandsgebote bringt Unternehmen und Organisationen dazu, Videokonferenzen, virtuelle Klassenzimmer und Telemedizin in einem noch nie da gewesenen Ausmaß zu nutzen. Wenn die Krise anhält, könnte sie einen Entwicklungsschub für Technologien auslösen, die Fernarbeit leichter machen, etwa Augmented und Virtual Reality.

Da diese Technologien zu Effizienzgewinnen führen werden, könnte es sein, dass Unternehmen sie beibehalten werden. Dieser Prozess wird ganze Branchen umgestalten und das Wesen von Arbeit und Lernen neu definieren. Unternehmen könnten ihre Immobilienstrategie und ihren ökologischen Fußabdruck überdenken, neue Formen von Zusammenarbeit und Teambuilding könnten entstehen, Lernen aus Distanz könnte zu neuen Strukturen im Bildungswesen führen.

Technologien, die Zusammenarbeit und Teambuilding auf Distanz ermöglichen, erhöhen aber auch das Risiko von Isolation und Einsamkeit. Unternehmen werden daher eine Balance finden müssen zwischen dem Einsatz neuer Technologien und Wegen, die Mitarbeitern auch weiterhin das Gefühl geben, Teil einer Gruppe und einer gemeinsamen Unternehmenskultur zu sein. Technologien wie Virtual und Augmented Reality könnten dabei eine Schlüsselrolle spielen.

Neuartige Technologien im Kampf gegen COVID-19

Das Minimieren von Interaktionen von Mensch zu Mensch, um die Verbreitung von COVID-19 zu verhindern, ebnet den Weg für die Automatisierung.

Roboter desinfizieren Räume, erhalten Kommunikationswege zu Menschen in Quarantäne aufrecht und stellen Medikamente zu. Drohnen patrouillieren in öffentlichen Bereichen, um Wärmebilder zu erstellen, Desinfektionsmittel zu versprühen und das Einhalten von Abstandsregeln sicherzustellen. Regierungen setzen Überwachungstechnologien ein, um Infizierte zu entdecken und Menschen zu identifizieren, die mit ihnen in Kontakt gekommen sind. Forscher setzen Künstliche Intelligenz (KI) und synthetische Biologie für die Forschung an Arzneimitteln und Impfstoffen ein. 3D-Drucker produzieren Bauteile für jetzt gebrauchte Produkte wie Beatmungsgeräte und automatische Türöffner.

Einige dieser Technologien stehen wegen ethischer Bedenken in Bezug auf die Wahrung der Privatsphäre, den Datenschutz und die allgemeine Bewegungsfreiheit in der Kritik. Solchen Bedenken werden Verbraucher und Regulierungsbehörden während der Krise wahrscheinlich weniger Bedeutung beimessen. Möglicherweise verfestigt sich diese Denkweise der Zugeständnisse. Andererseits könnte es passieren, dass ethische Risiken nun sichtbarer und drängender werden, da diese Technologien weiträumig verbreitet sind. Diese Trends könnten sich in Ländern mit unterschiedlichen Einstellungen zum Schutz der Privatsphäre unterschiedlich auswirken.

Innovationen für den neuen Normalzustand

Unternehmen, die in dieser Zeit wirtschaftlicher Umwälzungen Innovationen nicht genug Beachtung schenken, gefährden langfristig ihre Wertschöpfung und ihr Überleben.

Während der Wirtschaftskrise von 2007 bis 2009 entstanden neue Unternehmenstypen in Bereichen wie Sharing, Gig-Wirtschaft und alternative Währungen. Diese Krise wird wahrscheinlich Innovationen vorantreiben, die mindestens genau solche Umwälzungen mit sich bringen. Während sich einige große Unternehmen zurückziehen und sich auf ihre wertvollsten Kunden fokussieren, werden sich wendige Innovatoren ausbreiten und mit billigeren, einfacheren Lösungen den Markt erobern. Die Disruption wird sich von unten nach oben vollziehen.

Abschwünge schaffen auch Möglichkeiten für Unternehmer – und innovative Mitarbeiter des Unternehmens –, großartige Geschäftsideen mit wenig Kapital umzusetzen. Es gibt ein größeres Angebot an hoch qualifizierten Talenten. Dienstleistungen werden billiger. Zahlreiche Assets, die anderweitig eingesetzt werden könnten, stehen zur Verfügung – von Immobilien bis hin zu Ausrüstungsgegenständen. Entweder setzen Sie diese Ideen um – oder ein Disruptor.

Gleichzeitig werden die Kapitalgeber striktere Kriterien für Investitionen festlegen und sich auf die erfolgversprechendsten Teams konzentrieren. Unternehmen, in die sie investieren, werden besser aufgestellt sein und auf weniger Konkurrenz durch risikokapitalfinanzierte Konkurrenten stoßen als heute. Um diese Innovationen erschließen zu können, ist es entscheidend, dass Sie Ihr Ökosystem pflegen und ausbauen.

Entrepreneure beginnen bereits damit, Innovationen für den neuen Normalzustand zu entwickeln. Große Unternehmen, die daran partizipieren und die Vorteile für sich nutzen wollen, müssen einerseits kurzfristig handeln, gleichzeitig aber Innovationen im Blick haben, die langfristig von Wert sind sind.

Fischer holen bei rauer See ein Netz ein
(Chapter breaker)
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Kapitel 3

Gesellschaft

Die Pandemie zeigt Lücken im Sicherheitsnetz auf. Dadurch könnten sich die Erwartungen der Gesellschaft, wer wie viel zu diesen Netzen beitragen sollte, verändern.

Die COVID-19-Pandemie wirft ein Schlaglicht auf die wirtschaftliche Verwundbarkeit einiger Teile unserer Gesellschaft – und zeigt, dass die Verwundbarkeit einiger die Verwundbarkeit aller erhöht.

In den USA und in den meisten Schwellenländern haben viele Menschen keine Krankenversicherung. Das macht es fraglich, ob sie es sich leisten können, sich auf das Virus testen zu lassen. Gig-Arbeitnehmer im Dienstleistungssektor sind einem hohen Risiko ausgesetzt, aber in einigen Märkten fehlt es an Leistungen wie Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. Das lässt befürchten, dass diese Menschen auch dann weiterhin zur Arbeit kommen würden, wenn sie sich krank fühlen. In den Megastädten der Entwicklungsländer leben große Bevölkerungsgruppen in beengten Verhältnissen ohne ausreichenden Zugang zu angemessenen sanitären Einrichtungen. Das kann Maßnahmen wie Abstandsgebote unwirksam machen.

Der Übergang von der Prävention zur Schadensbegrenzung macht weitere Bruchstellen in der Gesellschaft sichtbar. Abstandsgebote haben dazu geführt, dass immens viele Arbeitnehmer praktisch über Nacht ihren Arbeitsplatz verloren haben, was wiederum Sicherheitsnetze wie die Arbeitslosenversicherung strapaziert. Und auch hier zählen Gig-Arbeiter zu den besonders gefährdeten Personen.

Entscheider aus dem gesamten politischen Spektrum sind dabei, die Sicherheitsnetze in rasantem Tempo zu verstärken. Diese Veränderungen könnten zu Dauereinrichtungen werden. Unternehmen könnten sich in einer Welt wiederfinden, in der sich die Erwartungen von Arbeitnehmern und der Gesellschaft als Ganzes an das Sicherheitsnetz permanent verändert haben. Ändern könnte sich auch ihre Einstellung dazu, welche Rolle sie für das Bestehen dieser Netze spielen sollten.

Unternehmen müssen ihre Rolle in der Gesellschaft überdenken

Das Vertrauen in Unternehmen hat in den vergangenen Jahren abgenommen; zunehmend fordern Verbraucher von Firmen und Investoren, sich proaktiv mit gesellschaftlichen Herausforderungen auseinanderzusetzen, von Einkommensungleichheit bis hin zum Klimawandel. Dieses Hinterfragen wird sich in der aktuelle Krise intensivieren – und das gleich in mehrfacher Hinsicht.

Zum einen spielen Unternehmen aus vielen Branchen eine aktive Rolle bei der Bewältigung der Herausforderungen, die die Pandemie mit sich bringt. Internet- und Mobilfunkanbieter unterstützen durch kostenlosen WiFi-Zugang Menschen, die von zu Hause aus arbeiten müssen. Nachrichten- und Medienunternehmen bauen Paywalls ab, um den Zugang zu lebensrettenden Informationen zu ermöglichen. Einzelhändler verwandeln ihre Parkplätze in Drive-through-Testkliniken. Technikgiganten spenden Millionen von N95-Masken, um Menschen zu unterstützen, die im Gesundheitswesen an vorderster Front stehen. Solche sichtbare Schritte könnten dazu beitragen, den Ruf der Unternehmen zu stärken und zerrüttetes Vertrauen wiederherzustellen.

Darüber hinaus sollten Wirtschaftsführer vorsichtig in Bezug auf Rettungspakete agieren, denn diese sind während einer Rezession ein umstrittenes Thema. Richtig ist, dass sich Unternehmen dieses Mal in einer Position befinden, die mehr Sympathie erweckt. Dennoch müssen sie mit größter Aufmerksamkeit die politische Debatte über Rettungspakete beobachten – ebenso wie ihr eigenes Vorgehen bei Entlassungen, Prämien für Führungskräfte und verwandten Themen.

Die stärkere Zusammenarbeit zwischen Unternehmen und Regierungen könnte öffentlich-privaten Partnerschaften zu einer höheren Bedeutung verhelfen. Die aktive Rolle, die Unternehmen bei der Bewältigung gesellschaftlicher Probleme spielen, könnte auch zu höheren Ansprüchen der Verbraucher führen. Rechnen Sie damit, dass Letztere einen höheren Standard in Sachen gesellschaftlicher Verantwortung an Ihr Unternehmen anlegen werden, auch über die Krise hinaus.

Die postpandemische Generation

Für die Generation, die der Generation Z folgt, wird der neue postpandemische Normalzustand einfach nur „normal“ sein. Die Auswirkungen dieses Generationenwechsels werden wohl tiefgreifend sein.

Generationen werden durch gesellschaftliche Veränderungen geprägt, die sie während ihrer Entwicklungsjahre erlebten. Kinder, die die Welt vor der Pandemie nicht kannten, werden die Veränderungen, die dieser folgen, als selbstverständlich ansehen.

Bis 2030 werden auf der Erde 1,8 Milliarden Menschen leben, die jünger als 20 Jahre sind. Sie werden wenig oder keine Erfahrungen mit einer Welt vor COVID-19 haben. Diese Generation wird wahrscheinlich von völlig anderen Voraussetzungen in Bezug auf Gesellschaft, Technologie und Ethik und die Rolle von Unternehmen bei der Bereitstellung öffentlicher Güter ausgehen und völlig andere Erwartungen haben.

Denken Sie daran, welche wirtschaftlichen Veränderungen durch die Millennials und Generation Z ausgelöst wurden – von veränderten Wertvorstellungen über Nachhaltigkeit und neuartige Arbeitsweisen bis hin zu neuen, digitalen Geschäftsmodellen. Jetzt steht uns die nächste große Transformation bevor. Die Unternehmen, die am schnellsten reagieren, werden sich einen Wettbewerbsvorteil in Sachen Rekrutierung, Produktivität, Innovation und Gewinnung von Kunden verschaffen.

Ein Segelboot steuert durch riesige Eisberge hindurch
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Kapitel 4

Verhalten

Die dauerhaften Auswirkungen auf die Gesellschaft sind unvermeidlich und gleichzeitig schwer vorherzusagen; bei der Bewältigung dieser Herausforderung könnte sich die Verhaltensökonomie als nützliches Instrument erweisen.

Schon jetzt lösen Furcht und Ungewissheit irrationale Handlungen und Herdenverhalten wie den Aufkauf von Toilettenpapier aus. Hamsterkäufe wird es vermutlich bald nicht mehr geben. Aber welche dauerhaften Auswirkungen wird COVID-19 auf die Psyche der Verbraucher haben?

Wird die tiefgreifende Isolation, die durch soziale Distanzierung entsteht, bei Verbrauchern eine Massenbewegung hervorrufen, die persönliche Kontakte gegenüber Social Media bevorzugt? Werden eine große Anzahl von Opfern und ein gesteigertes Bewusstsein für Sterblichkeit Verbraucher dazu bringen, Erfahrungen vor materielle Besitztümer zu stellen? Wird durch das allgegenwärtige Gefühl von Risiko und Unsicherheit die Nachfrage nach Produkten und Erlebnissen in die Höhe schießen, die Wohlbefinden und Schutz versprechen?

Wirtschaftsentscheider sollten diese Veränderungen beobachten, um zu verstehen, was die wahren Bedürfnisse der Kunden im neuen Normalzustand sind. Die Verhaltensökonomie könnte dabei von unschätzbarem Wert sein. Schon jetzt haben Unternehmen in vielen Sektoren verhaltensökonomische Fachkenntnisse in Aufsichtsräte und Vorstände hineingetragen. In der Welt nach COVID-19 wird ein solches Wissen wohl noch wertvoller sein.

Vertrauen, Polarisierung und Informationsfluss

Das neuartige Coronavirus trifft auf eine Gesellschaft, die ohnehin stark zersplittert ist. Das Vertrauen schwindet, die Polarisierung und die Fremdenfeindlichkeit nehmen zu. Historisch betrachtet haben Pandemien immer den sozialen Zusammenhalt verringert und Konflikte hervorgerufen. Wird uns die Pandemie näher zusammenbringen oder weiter auseinandertreiben?

Wie könnte sich die Pandemie auf unsere stark polarisierte Umwelt und die Wahrnehmung von Social Media auswirken? Die bisher verbreiteten Social Media bieten sowohl wertvolle Fakten als auch Fehlinformationen. Nun unternehmen Betreiber von Plattformen ernsthafte, sichtbare Schritte, um Fehlinformationen über COVID-19 zu bekämpfen – das könnte ihnen Sympathien einbringen.

Von Anfang an unterschieden sich Linksliberale und Konservative deutlich darin, wie ernst sie Informationen über die Pandemie nahmen. Doch mit der Verschärfung der Krise gehen beide Seiten zunehmend von denselben Annahmen aus – zumindest im wissenschaftlichen Bereich. Wird die Pandemie dazu beitragen, einen gemeinschaftlichen Blick auf die Realität wiederherzustellen?

Fazit

Wie alle Krisen wird auch die Pandemie das Beste und das Schlimmste in uns zum Vorschein bringen. In einer Zeit, in der Unternehmen aufgefordert sind, eine umfassendere gesellschaftliche Rolle zu bekleiden, kann Entscheidern im Kampf gegen Fehlinformationen und Schuldzuweisungen eine Führungsrolle zukommen. Gleichzeitig müssen sie die zahlreichen Veränderungen im Blick behalten, die Weltwirtschaft, Technologien, gesellschaftliche Normen und Verbraucherverhalten durchlaufen – sie alle werden das neue „Normal“ nach der Krise prägen.

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