5 Minuten Lesezeit 19 Juni 2020
An industrial harbour

Wie Europa seine strategische Autonomie stärkt

Von EY Deutschland

Building a better working world

5 Minuten Lesezeit 19 Juni 2020

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Die Verbindung von Liquidität mit Datenaustausch macht Lieferketten transparenter, robuster und nachhaltiger. 

Die COVID-19-Pandemie hat schonungslos offengelegt, dass die meisten Länder in der akuten Krisensituation kaum in der Lage waren, die Verfügbarkeit mit versorgungskritischen Gütern wie persönlicher Schutzausrüstung zu gewährleisten. Das war ein Weckruf für alle, die Versorgungssicherheit bislang als gegeben vorausgesetzt haben.

Durch die Corona-Krise eines Besseren belehrt, wird weltweit der Ruf nach einer verstärkten nationalen Eigenversorgung und robusten Lieferketten laut, wobei Letzteres in den meisten Fällen gleichgesetzt wird mit der Rückführung von Produktionsanteilen aus Schwellenländern in Industrieländer. Die Forderung nach robusten Lieferketten trifft einen Nerv: Was genau ist der Maßstab für Robustheit? Welchen Grad der Robustheit streben Industrienationen in den Bereichen, in denen sie von Partnern abhängig sind, an? Welche Abhängigkeit wird gesellschaftlich und politisch akzeptiert? Und wie viel kostet es, die nationale Versorgungssicherheit zu stärken?

Die Forderung, Lieferketten neu zu organisieren, um Abhängigkeiten zu reduzieren, setzt wie selbstverständlich voraus, dass Lieferketten transparent und alle Partner entlang der Wertschöpfungskette bekannt sind. Das ist jedoch weitgehend nicht der Fall.

Unternehmen kennen in der Regel ihre direkten Partner, die wiederum ihre Partner kennen. Hinter diesen unmittelbaren Vertragsbeziehungen wird es jedoch sehr schnell dunkel. Umfassende Transparenz lässt sich nur vereinzelt und wenn, dann nur mit einem unverhältnismäßig hohen Aufwand herstellen. Dass dies bereits heute Probleme bereitet, verdeutlichen die Schwierigkeiten in der Umsetzung verschiedener Initiativen, die Unternehmen zu mehr gesellschaftspolitisch verantwortlichem Handeln auffordern.

Lieferketten stehen im Mittelpunkt des geoökonomischen Wettbewerbs

Das internationale Umfeld verändert sich grundlegend. Es wird immer wichtiger, die Komplexität weltweiter Lieferkettennetzwerke zu verstehen, weil diese im Mittelpunkt eines schärfer werdenden geoökonomischen Wettbewerbs stehen. Lieferketten verlaufen durch Räume, die mehr oder weniger stabil sind, und hängen von Transportwegen und Transportmitteln ab, deren Bau Staaten und Unternehmen mit sehr unterschiedlichen Interessen verfolgen. Während die meisten Industrieländer Transportwege als funktionales Instrument der Versorgung sehen, sind sie für ambitionierte Schwellenländer ein Instrument, um eigene Vorstellungen zur politisch-wirtschaftlichen Ordnung von Räumen umzusetzen.

Der geoökonomische Wettbewerb bestimmt zunehmend, wie Unternehmen ihre Lieferketten organisieren, und beeinflusst die Verfügbarkeit der dafür benötigen Technologien und Finanzierung.

Globalisierung ist abhängig vom Austausch von Waren, Dienstleistungen, Kapital, Information und der Möglichkeit, dass Menschen reisen können. Deshalb ist die Frage, wer Zugang zu diesen Versorgungskorridoren und Versorgungsmitteln hat, im Kern eine Frage der politischen und wirtschaftlichen Macht. Nichts anderes steht hinter der Idee von Chinas Belt and Road Initiative, der europäischen Konnektivitätsstrategie mit Asien oder den neuesten Überlegungen der US-amerikanischen Administration, ein Netzwerk der Prosperität mit gleichgesinnten Partnern aufzubauen.

Der geoökonomische Wettbewerb bestimmt zunehmend, wie Unternehmen ihre Lieferketten organisieren, und beeinflusst die Verfügbarkeit der dafür benötigen Technologien und Finanzierung. Dabei gerät die kooperative Technologieentwicklung, bislang der Treiber für global verzweigte Lieferketten, ins Hintertreffen, weil Zugang zu und Verfügungsgewalt über Technologie verstärkt aus der Logik eines Nullsummenspiels betrachtet werden: Wer beides besitzt, will es nicht teilen, weil Exklusivität den Wettbewerbsvorsprung sicherstellen soll. Das betrifft vor allem die Digitaltechnologien, das Kernelement der Industrie 4.0. Import- und Exportbestimmungen werden verstärkt auf diesen Technologiebereich und verwandte Felder wie Künstliche Intelligenz (KI), Robotik, Hochleistungsrechner sowie Blockchain oder Quanteninformationswissenschaft ausgeweitet, um ihre Verfügbarkeit einzuschränken.

Dieser Umstand beeinflusst auch Supply-Chain-Finance-Lösungen, denn Finanztechnologie ist im Kern Digitaltechnologie. Wer sie kontrolliert, schafft Transparenz bezüglich der Finanzströme. Deshalb versuchen zum Beispiel China und Russland verstärkt, dem von westlichen Industrieländern dominierten Finanz- und Zahlungssystem eigene Lösungen entgegenzustellen und die Wirtschaftsbeziehungen mit ihren Partnern darüber abzuwickeln. Damit entsteht jedoch für die Lieferkettenliquidität eine neue Bruchstelle, die unmittelbar mit der räumlichen Dimension von Lieferketten und den ordnungspolitischen Vorstellungen der dadurch verbundenen Staaten verknüpft ist.

Europäische Kommission macht robuste Lieferketten zum strategischen Thema

Unter anderem diese Entwicklungen sorgen dafür, dass das Umfeld, in dem Unternehmen Lieferketten betreiben, deutlich instabiler wird. Umso wichtiger ist daher der Ende Mai 2020 unterbreitete Vorstoß der Europäischen Kommission, mit einer neuen Fazilität für strategische Investitionen dazu beizutragen, strategische Wertschöpfungsketten in Europa zu stärken. Dieser Ansatz katapultiert das Management von Lieferketten ganz oben auf die strategische Agenda der EU.

Kein Mitgliedstaat wird sich künftig der Frage entziehen können, welchen Beitrag er zu diesem Ansatz leistet und wie er, diesen auf nationaler Ebene umsetzen will. Ein ordnungspolitisch kluger Ansatz für diese neue Investitionsfazilität sollte die Logik unternehmerischer Steuerung nutzen und durch die Kombination zweier zentraler Aspekte stärken: der Bereitstellung von Liquidität für Unternehmen und der Definition der Rahmenbedingungen, die dafür erfüllt sein müssen.

Lieferketten sind eingebettet in den Dreiklang aus Vertragsbeziehung, Zahlung (und damit Liquidität) und Daten. Liquidität ist dabei das Verbindungselement, das alles zusammenhält. Bislang ist sie allerdings nur sehr einseitig verfügbar. Kleinen Unternehmen am Ende der Lieferkette mangelt es oft an Zugang zu günstiger Liquidität. Großunternehmen, die öffentliche Hand, multinationale Organisationen und Investoren verfügen dagegen über diese günstige Liquidität. 

Das Ausbalancieren dieser Liquiditätsasymmetrie sollte im Zentrum aller Bemühungen stehen, die Lieferketten transparenter, robuster und auch nachhaltiger zu gestalten.

Ausgehend vom schwächsten Teilnehmer der Lieferkette muss Liquidität daher neu organisiert werden, indem Konzepte der Lieferkettenfinanzierung (Supply Chain Finance) nicht nur auf der ersten Stufe, sondern entlang der gesamten Lieferkette funktionieren. Dafür verbindet ein neuer, anreizorientierter Ansatz Liquidität mit dem Wert von Daten im Rahmen der Vertragsbeziehung zwischen den Lieferkettenpartnern. Liquidität zwischen den Partnern fließt als Gegenleistung zu Produkten und Diensten sowie neu auch dem Austausch von Daten. Dieser neue Datenstrom, der vorhandene Daten aus ihren Silos hebt und sie für die Partner der Lieferkette zugänglich macht, schafft jene Transparenz, die bislang nicht vorhanden ist, weil noch kein Anreiz besteht, diese Daten zu teilen.

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Mit Lieferketten Stabilität und Prosperität projizieren und Europas Autonomie stärken

COVID-19 und der zunehmende geoökonomische Antagonismus zwischen führenden Staaten verdunkeln die globalen Zukunftsperspektiven. Will Europa „seine strategische Autonomie ausbauen und gleichzeitig die Vorteile einer offenen Wirtschaft wahren“, ist die Zusammenarbeit mit Partnern unerlässlich. Allerdings ist das gegenwärtig vorherrschende ökonomische Modell mit weltweit weit verzweigten Lieferketten nicht darauf ausgerichtet, eine globale Entkoppelung der international führenden Volkswirtschaften schadlos zu überstehen. Allein die Reorganisation der Lieferketten mit dem Ziel einer verstärken europäischen bzw. nationalen Versorgungssicherheit wird angesichts der geoökonomischen Dynamik sehr anspruchsvoll.

Europa sollte daher einen Weg wählen, der die Kraft der unternehmerischen Steuerung anreizorientiert nutzt, um diese mit Anforderungen an das Lieferkettenmanagement zu kombinieren, die sich aus dem liberalen und wertegebundenen europäischen Weltbild ergeben. Europa würde damit in innovativer Weise einen liquiditäts- und datengetriebenen Ansatz mit politischen Vorgaben zur unternehmerischen Krisenfestigkeit verbinden und gleichzeitig Lieferketten als neues Instrument der Prosperitäts- und Stabilitätsprojektion nutzen – eine wegweisende Vision für die nächste Generation in Europa und in seinen Partnerländern.
 

Autoren:
Carsten Jäkel ist Partner und Leiter der Global Treasury Services für Deutschland, die Schweiz und Österreich bei EY.
Dr. Heiko Borchert ist Inhaber und Geschäftsführer des auf sicherheitsstrategische Themen spezialisierten Beratungsunternehmens Borchert Consulting & Research AG.

Fazit

Die Engpässe bei versorgungskritischen Gütern, die durch die Covid-19-Pandemie zum Vorschein kamen, haben weltweit den Ruf nach robusten Lieferketten verstärkt. Die umfassende Reorganisation von Lieferketten setzt jedoch ein Maß an Transparenz hinsichtlich der Lieferkettenpartner voraus, das es aktuell nicht gibt. Deshalb ist ein neuer Ansatz erforderlich, der den Zugang zu Liquidität begünstigt und mit umfassendem Datenaustausch kombiniert. Damit ließen sich Lieferketten transparenter, robuster und nachhaltiger organisieren.

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