8 Minuten Lesezeit 30 März 2020
Bildaufnahme einer Straße

Wie Europas Werte zu digitaler Stärke führen

Von Julie Teigland

EY EMEIA Area Managing Partner I EY Global Leader – Women. Fast forward

Sieht die transformative Kraft von Digitalisierung und Innovation als Chance, nachhaltiges integratives Wachstum sicherzustellen. Leidenschaftliche Fürsprecherin in Fragen der Gleichstellung.

8 Minuten Lesezeit 30 März 2020

Schaf, Wolf oder Schäfer? Bislang macht sich Europa mehr Gedanken über den Weg als über den Zweck der digitalen Transformation. Das sollte sich ändern.

Die Rolle Europas in der digitalen Welt kann aus sehr unterschiedlichen Blickwinkeln betrachtet werden. Als Amerikanerin, die seit mehr als dreißig Jahren in Deutschland lebt, und als Verantwortliche für Teams in fast 100 Ländern – Europa, Naher und Mittlerer Osten, Afrika und Indien – will ich versuchen, die verschiedenen Sichtweisen nebeneinander zu stellen und übereinander zu legen. Was kann, was will, was sollte Europa in die globale Digitalisierung einbringen? Welche Chance haben europäische Wertvorstellungen, Konzepte und Vorhaben in der zunehmend bipolaren, digitalen Welt?

Skepsis in Europa, mehr Mut in Afrika

Der europäische Blick auf die Digitalisierung, besonders der deutsche, hat allzu oft alarmistische Züge: Ganze Landstriche drohen durch mangelnde Breitbandversorgung abgehängt zu werden, Künstliche Intelligenz (KI) kann Zigtausende Arbeitsplätze kosten, die Plattformökonomie den Datenschutz untergraben. Der afrikanische Blick ist anders: In Afrika haben heute mehr Menschen Zugang zu einem Mobiltelefon als zu Elektrizität und guter Sanitärversorgung. Wer Zugang zum Internet hat, gewinnt Zugang zur Bildung. Afrikas Landwirtschaft wird durch die Plattformökonomie modernisiert und an globale Märkte herangeführt.

Dort in Afrika, aber auch in den wohlhabenden Staaten Europas bietet die digitale Transformation den Menschen neue Chancen. Gleichzeitig ist sie ist auch eine Chance für die Menschheit insgesamt, die globalen Probleme zu lösen. Die wohl größte Herausforderung ist der Klimawandel. Mit dem Pariser Klimaschutzabkommen haben sich die unterzeichneten Staaten dazu verpflichtet, die von Menschen verursachte globale Erwärmung auf unter 2 Grad Celsius zu begrenzen.

Digitalisierung, Dekarbonisierung, Transformation

Unabhängig von der Frage, wie realistisch es ist, dass dieses Ziel erreicht wird: Wenn es gelingen soll, dann nur mit Hilfe der digitalen Transformation. Die Digitalisierung der Energieversorgung ist Voraussetzung für den Umstieg auf alternative Energien. Die Digitalisierung der Mobilität ist Voraussetzung für die Reduzierung von Wegen und die Verlagerung auf umweltfreundliche Verkehrsträger. Mithilfe von Daten können wir die Ressourceneffizienz erhöhen und die Umweltbelastung verringern. Digitalisierung und Dekarbonisierung hängen untrennbar zusammen.

Die wohl größte Herausforderung ist der Klimawandel. Mit dem Pariser Klimaschutzabkommen haben sich die unterzeichneten Staaten dazu verpflichtet, die von Menschen verursachte globale Erwärmung auf unter 2 Grad Celsius zu begrenzen.

Seit vielen Jahren setzen wir uns intensiv mit der digitalen Transformation der Wirtschaft auseinander. Ganze Branchen wurden durch die Digitalisierung von Grund auf verändert, ob Musikindustrie oder Handel, Medien oder Finanzwesen. Nach den tiefgreifenden Veränderungen in wichtigen Branchen steht nun eine noch größere Veränderung an: die digitale Transformation unseres Gemeinwesens. Neue Mobilitätsplattformen, E-Health-Konzepte oder Smart Cities sind keine Randfragen, sie stehen vielmehr für tiefgreifende Veränderungen des Gemeinwesens. 

Bei neuer Mobilität geht es nicht nur um die Zukunft der Autoindustrie, sondern um die Fortbewegung von morgen. Bei E-Health geht es nicht nur um Gesundheits-Apps für das Smartphone, sondern um die Zukunft unseres Gesundheitswesens, um völlig neue Ansätze zur Verhütung und Bekämpfung von Krankheiten. Bei den Smart Cities geht es um nicht weniger als um die Frage, wer künftig die Stadt gestaltet – ob gewählte Kommunalpolitiker den Wandel bestimmen oder ob unser lokales Gemeinwesen zukünftig von globalen Plattformen abhängig sein wird.

All diese Herausforderungen erfordern politische Gestaltung. Es muss ein Rahmen gesetzt werden, der definiert, wie wir digital leben wollen, wie wir uns fortbewegen, Krankheiten heilen, Bildung vermitteln. In diesem Rahmen können sich Innovationen entfalten und Märkte entwickeln. Dieser Rahmen ist jedoch nicht das Ergebnis globaler Technologieinnovationen, sondern eine Entscheidung lokaler Gemeinschaften. Technologische Innovationen zeigen uns Möglichkeiten für diese Transformation auf.

Wie wir sie aber nutzen und wohin wir uns entwickeln wollen, muss vor Ort entschieden werden. Die Auswahl von Technologien und die Absicherung von Risiken darf hierbei nicht am Anfang stehen, sondern das angestrebte gesellschaftliche Ziel. Wo wollen wir hin bei der Weiterentwicklung unseres Gemeinwesens – mit Hilfe der Digitalisierung? Wir diskutieren viel zu oft über Instrumente, über Blockchain, eine Gesundheitskarte, maschinelles Lernen oder 5G-Netze. Wir diskutieren zu wenig darüber, was wir eigentlich mit der Technologie bezwecken wollen, wie wir künftig leben wollen.

Wie kann die Sicherheit erhöht, das Funktionieren des Kollektivs garantiert, das Regierungssystem stabilisiert werden?

Andere führen diese Diskussion weitaus intensiver als die Europäer. Die Unternehmer des Silicon Valley haben stets den Nutzen für die Menschen in den Mittelpunkt ihrer Innovationen gestellt: Wie können wir das Leben für Millionen oder Milliarden Menschen verbessern und vereinfachen? Die chinesische Politik stellt traditionell die Effektivität und Effizienz des herrschenden Systems in den Mittelpunkt: Wie kann die Sicherheit erhöht, das Funktionieren des Kollektivs garantiert, das Regierungssystem stabilisiert werden?

Viele Fragen, auf Antworten die (noch) fehlen

Europa setzt diesem Systemwettbewerb bisher kaum eigene Visionen entgegen, sondern beschäftigt sich mehr mit dem Weg als mit eigenen Zielen. Wie schützen wir unsere Daten? Wie sichern wir unsere Telekommunikationsnetze? Wie bekämpfen wir illegale Inhalte im Netz? Damit ist es zweifelsohne gelungen, ein Alleinstellungsmerkmal in der Welt zu erringen, als Meister der Regulierung digitaler Geschäftsmodelle. Herausragendes Beispiel ist die Datenschutzgrundverordnung: Von Brasilien bis Japan, von Kalifornien bis Indien übernehmen immer mehr Staaten wesentliche Elemente des europäischen Datenschutzes. Der regulatorische Umgang Europas mit den Risiken der Digitalisierung wird als Modell wahrgenommen, als Vorbild für andere Länder. 

Was im Datenschutz erfolgreich war, könnte sich in anderen Bereichen wiederholen. Europa hat vor drei Jahren mit der Network and Information Security Directive Regeln für die Sicherheit digitaler Dienste und kritischer Infrastrukturen vorgelegt. Mit dem vor wenigen Monaten in Kraft getretenen EU Cybersecurity Act wurde dieses Regelwerk ausgebaut. Jetzt schickt sich Europa an, auch für den nächsten Bereich Regeln aufzustellen – mit der Weiterentwicklung des europäischen Kartellrechts könnte die EU zum Vorreiter eines digitalen Wettbewerbsrechts werden.

Warum es eine sektorübergreifende Kooperation braucht

Wie also steht es nun um Europas Rolle in der digitalen Welt? Was ist wichtig, was wünschenswert? Aus meiner Sicht hat die europäische Staatengemeinschaft zwei wesentliche Aufgaben zu bewältigen.

„Digitalisierung zu Ende denken“, lautet die eine Aufgabe. Wir haben in den letzten Jahren viele technologische Innovationen erlebt, radikale Veränderungen in den Wertschöpfungsketten vieler Branchen. Was nun ansteht, ist die Vernetzung zwischen Unternehmen und ihren Zulieferern in gemeinsamen Cloud-Lösungen und Dateninfrastrukturen, die Verknüpfung von Anwendungen und Infrastruktur in der Smart City sowie die sektorübergreifende Kooperation – etwa zwischen Energie- und Mobilitätssektor. Diese Verknüpfung ist für die europäischen Unternehmen entscheidend und erfordert die Zusammenarbeit zwischen Wirtschaft und Politik. 

Digitalisierung zu Ende denken heißt auch, einen konsequenten Umgang mit Risiken zu organisieren. Die Cybersicherheitslage hat sich in den letzten Jahren weiter verschärft. Cyberangriffe können nicht mehr nur die IT-Systeme in Büros und Fabriken treffen, sie sind auch eine Gefahr für die Vielzahl vernetzter Geräte, vom Auto bis hin zur Medizintechnik im Krankenhaus. Für jedes Unternehmen ist es daher zwingend, ein übergreifendes Risikomanagement mit einheitlichen Prozessen und gemeinsamer Verantwortung zu etablieren. Ich bin überzeugt, dass dies ein lohnendes Unterfangen sein wird für Europas Unternehmen und ihnen in einer Welt zunehmender Risiken und Konflikte Vertrauen (und Wettbewerbsfähigkeit) sichern.

Politik muss einen Rahmen setzen

Das braucht allerdings ein entsprechendes Rahmenwerk durch Politik und Gesetzgebung. Und das ist Europas zweite große Aufgabe. Rund um den Globus erleben wir derzeit beispielsweise eine Diskussion über die Vertrauenswürdigkeit bestimmter Hersteller von Infrastrukturkomponenten für 5G-Mobilfunknetze. Die USA haben sich entschieden, chinesische Hersteller auszuschließen, die EU hat dazu noch keine einheitliche Position gefunden, in Deutschland erleben wir eine kontroverse politische Diskussion. Die Frage der Vertrauenswürdigkeit solcher Komponenten lässt sich nicht technisch lösen. Sie zu beurteilen ist eine Aufgabe, die durch staatliche Rahmensetzung bewältigt werden muss. Wie bei der Eisenbahninfrastruktur, dem Gesundheitswesen oder der Energieversorgung: Die Unternehmen können erwarten, dass der Staat auch für digitale Infrastrukturen die Verantwortung übernimmt und eine Entscheidung trifft. Dieses Primat der Politik gilt nicht nur bei der Abwehr von Risiken. Es gilt erst recht bei der Festlegung der Ziele, die das Gemeinwesen mit der Digitalisierung verfolgt. 

Konsequenz in der Umsetzung war viele Jahrzehnte eine Stärke europäischer Infrastrukturentwicklung. Konsequenz ist auch heute das Gebot der Stunde.

Ein Beispiel: Die Digitalisierung des Gesundheitswesens besteht nicht in erster Linie aus Datenschutzrecht, Pseudonymisierung von Patientendaten oder Sicherheitsstandards in der Arztpraxis. Das können die Europäer fabelhaft. Was fehlt, ist die Konsequenz, alle Prozesse dieses Sektors zu digitalisieren, sämtliche Daten zusammenzuführen, die wir zum Wohle der Forschung und Patientenversorgung benötigen.

Digitale Transformation konsequent leben

Gleiches gilt für andere Bereiche des Gemeinwesens – ob Mobilität oder Verkehrswende. Ladeinfrastrukturen für Elektroautos benötigen eine konsequente Infrastrukturentwicklung mit starker Steuerung. Vernetztes Fahren wird sich erst dann durchsetzen, wenn es Teil unserer Verkehrspolitik wird.

Konsequente digitale Transformationen haben die Kraft, Europa voranzubringen und Vorbild für die Welt zu sein. Europa ist ein reicher Kontinent und kann es sich leisten, in digitale Infrastrukturen und Klimaschutz zu investieren. Es ist ein starker Kontinent mit vielfältigen Kulturen, großer Innovationskraft und hohem Ansehen in der Welt. Ein Europa, das dieses Potential nutzt, wird es schaffen, die eigene Identität im globalen Systemwettbewerb zu behaupten. Europa wird damit ein Vorbild sein für weitere Staaten in der Welt, wie eine sozialverträgliche, rechtsstaatlich abgesicherte, allumfassende Digitalisierung aussehen kann.

Absichern und führen, die eigene Herde schützen, aber auch vorangehen – weder Schaf noch Wolf, sondern Schäfer sein. So stelle ich mir Europas Rolle in der digitalen Welt vor.

Fazit

Seit vielen Jahren setzen wir uns intensiv mit der digitalen Transformation der Wirtschaft auseinander. Ganze Branchen wurden durch die Digitalisierung von Grund auf verändert, ob Musikindustrie oder Handel, Medien oder Finanzwesen. Wenn Herausforderungen wie der Kampf gegen den Klimawandel gelingen sollen, brauchen wir eine konsequente digitale Transformation. Absichern und führen, die eigene Herde schützen, aber auch vorangehen – weder Schaf noch Wolf, sondern Schäfer sein. 

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