Die gute Nachricht zuerst: Im Zuge der Harmonisierung des europäischen Kapitalmarktrechts hat der „EU Listing Act“ eine Reihe bestehender Ausnahmen von der Pflicht, einen Wertpapierprospekt zu erstellen, erweitert und neue Ausnahmen geschaffen. Dies reduziert Aufwand und Kosten, schafft zeitliche Flexibilität und erleichtert Emittenten insgesamt die Aufnahme von Kapital am Kapitalmarkt. Gleichzeitig hat der europäische Gesetzgeber aber die Pflichtenstellung von Emittenten und ihren emissionsbegleitenden Banken verschärft. Hierzu zählt die Vorgabe, zukünftig auch die Lageberichte der letzten beiden abgeschlossenen Geschäftsjahre in den Wertpapierprospekt mit aufzunehmen.
Zwei Fliegen mit einer Klappe
Die Pflicht, historische Finanzausweise in den Wertpapierprospekt aufzunehmen, ist schon seit Langem fester Bestandteil des EU-Rechts. Emittenten von Aktien mussten schon bisher mindestens die Finanzausweise für die letzten drei abgeschlossenen Geschäftsjahre beifügen. Diese hatten (wiederum mindestens) die Bilanz, die Gewinn- und Verlustrechnung, die Eigenkapitalveränderungsrechnung, die Kapitalflussrechnung, Rechnungslegungsstrategien und erläuternde Vermerke zu enthalten. Eine Aufnahme des Lageberichts war nicht vorgesehen. Mit der Einführung dieser Pflicht beabsichtigt der europäische Gesetzgeber zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen: Zum einen soll die ESG- und nachhaltigkeitsbezogene Offenlegung im Lagebericht so Eingang in den Wertpapierprospekt finden, zum anderen soll dies – durch die Nutzung des von Emittenten ohnehin zu erstellenden und entsprechende Informationen enthaltenden Lageberichts – ohne zusätzlichen Aufwand geschehen.
Höhere Risiken …
Diese scheinbar effiziente Vorgehensweise birgt für Emittenten und ihre emissionsbegleitenden Banken allerdings Risiken. Als Teil der regulären Finanzberichterstattung, d. h. außerhalb des Kontextes einer prospektpflichtigen Kapitalmarkttransaktion, ist das Haftungsrisiko einer Gesellschaft für Fehler oder Lücken im Lagebericht überschaubar. Sie richtet sich primär nach dem sog. Deliktsrecht, wonach grundsätzlich Geschädigte alle Voraussetzungen für eine etwaige Haftung der Gesellschaft darlegen und beweisen müssen. Mit der Aufnahme des Lageberichts und der darin enthaltenen Informationen in den Wertpapierprospekt unterfallen sie jedoch der strengen Prospekthaftung. Hier profitieren Geschädigte von einer Reihe von Vergünstigungen, was ihnen den Nachweis der Haftung des Emittenten (und der emissionsbegleitenden Banken) erleichtert und umgekehrt das Haftungsrisiko für diese entsprechend verschärft.
… bei Prognosen
Der Lagebericht entspricht nach Form und Inhalt üblicherweise nicht kapitalmarkt- und prospekrechtlichen Gepflogenheiten. Besonders kritisch wird dies bei zukunftsgerichteten Aussagen, insbesondere dann, wenn diese mit absoluten Zahlen (prognostizierten Umsätzen o. ä.) untermauert werden und im Nachhinein durch die Realität widerlegt werden können, etwa bei den Ausführungen zur voraussichtlichen Entwicklung der Geschäftstätigkeit (Prognosebericht) und den zu erwartenden Chancen und Risiken (Chancen- und Risikobericht). Da die in den Wertpapierprospekt aufzunehmenden Lageberichte vergangene Zeiträume betreffen, kann ein Emittent gezwungen sein, inzwischen überholte Aussagen darin aufnehmen zu müssen. Das hieraus entstehende Haftungsrisiko trifft nicht nur den Emittenten, der die Erstellung des Lageberichts verantwortet, sondern regelmäßig auch die emissionsbegleitenden Banken. Denn diese übernehmen gemäß deutschem Kapitalmarktrecht regelmäßig eine Mitverantwortung für den Wertpapierprospekt und damit zukünftig auch für die darin enthaltenen Lageberichte. Die von einflussreichen Marktteilnehmern wie dem Deutschen Aktieninstitut oder der Deutschen Kreditwirtschaft geäußerte Kritik an der neuen Pflicht blieb im Rechtssetzungsverfahren unberücksichtigt.
Wie Haftung vermeiden?
Sollte es trotz des noch ausstehenden Umsetzungsaktes, den die Europäische Kommission bis zum 5. Juni 2026 zu erlassen hat, dabei bleiben, dass der Lagebericht zukünftig vollständig in den Wertpapierprospekt aufzunehmen ist, wird die Praxis Wege entwickeln müssen, um das neue Haftungsrisiko zu begrenzen. Ein möglicher Weg wird für Emittenten sein, einstmals zukunftsgerichtete, aber inzwischen überholte Aussagen im Hauptteil des Wertpapierprospekts ausdrücklich in den historischen Kontext zu stellen, entsprechend einzuordnen, einzuschränken und gegebenenfalls zurückzunehmen.
Auf die Formulierungen achten
Außerdem sollten Emittenten in Erwägung ziehen, schon bei der Erstellung von Lageberichten kapitalmarkt- und prospektrechtliche Gepflogenheiten zu berücksichtigen. Dasbetrifft etwa die sorgfältige Plausibilisierung und Verifizierung von Angaben im Lagebericht. Auch sollten Prognosen und andere zukunftsgerichtete Aussagen besonders vorsichtig formuliert werden.