6 Minuten Lesezeit 11 Dezember 2019
Produktionsstraße in einem Autowerk

Wie digitale Zwillinge Autoherstellern reale Vorteile bringen

Autoren
Sven Dharmani

EY Global Advanced Manufacturing & Mobility Supply Chain Leader

Passionate about transforming supply chains. Problem solver. Curious and collaborative. Avid traveler, scuba diver and car enthusiast.

Sachin Lulla

EY Advanced Manufacturing & Mobility, Global Digital Strategy & Transformation Leader

Internet of Things strategist. Digital influencer. Sector-focused thinker. Keynote speaker. Proud husband and father.

6 Minuten Lesezeit 11 Dezember 2019

Die virtuellen Nachbildungen eines physischen Produkts, einer Anlage, eines Prozesses oder der Supply Chain helfen, die Leistung zu überwachen, zu simulieren und zu optimieren.

Wenn Sie einen neuen Reifen produzieren wollen, werden Sie wahrscheinlich einen Prototyp bauen und ihn auf der Straße testen, um ihn noch besser zu machen.

Wer die Produktionskapazität steigern möchte, kann seinen Instinkten folgen und versuchen, die Auswirkungen auf die Montagelinien vorherzusehen und gegebenenfalls auf Engpässe zu reagieren.

Befürchtet man eine unterbrochene Lieferkette aufgrund einer Naturkatastrophe, können Wettervorhersagen und andere relevante Daten zurate gezogen werden, um für den Notfall vorzusorgen – und dann auf das Beste zu hoffen.

Aber im transformativen Zeitalter haben produzierende Unternehmen – vor allem im Automobilsektor – noch eine andere Option. Diese ist nicht nur beweglicher, kosteneffizienter und innovativer, sondern auch stärker in der tatsächlichen Funktionsweise des Unternehmens verankert: Der digitale Zwilling ist eine virtuelle Nachbildung eines beliebigen physischen Produkts, Geräts, Vermögenswerts oder der Supply Chain. Er kann als Testumgebung für die Überwachung, Simulation und Optimierung von Produktion, Qualität und Betriebsleistung dienen.

Ein digitaler Zwilling könnte die virtuelle Version eines Reifens oder eines Pkw, der Herstellungsweise dieser Artikel oder der gesamten Produktionslinie sein. Er kann sogar eine ganze Fabrik, ein Netz aus Werken oder die gesamte Lieferkette darstellen. Zusammen mit bahnbrechenden Technologien wie dem Internet of Things (IoT), Künstlicher Intelligenz, maschinellem Lernen, Process und Data Mining und sogar Augmented Reality (AR) erweitern digitale Zwillinge die Grenzen des Möglichen. So macht die vierte industrielle Revolution die Produktion bereit fürs 21. Jahrhundert.

Erkunden Sie, wie sie funktionieren und in Ihrem Betrieb angewendet werden können.

Wie sie funktionieren

Bei der Betrachtung von Fabriken und Herstellungsprozessen erstellen Unternehmen eine digitale Darstellung einer Maschine. IoT-Sensoren sammeln Echtzeitdaten über deren Leistung und übertragen diese an Server, die sich entweder vor Ort oder in der Cloud befinden. Diese Daten schaffen eine exakte digitale Replik der Maschine und ihrer Rolle im Betrieb. Je mehr Daten und Quellen es gibt, desto bessere Einblicke lassen sich durch Datenanalyse und maschinelles Lernen über Betriebsabläufe in der Fabrik gewinnen und desto besser lassen sich Abläufe simulieren. Virtual Reality und Augmented Reality ermöglichen weitere Fortschritte bei Visualisierungen.

Es besteht außerdem die Möglichkeit, mehr Daten aus anderen Quellen und in anderen Kontexten einzugeben, zum Beispiel logistische Informationen in der Supply Chain und Seriennummern von Komponenten, die sich im Transit befinden. Mit den richtigen Daten wird der digitale Zwilling zu einem Forschungslabor, in dem Hypothesen getestet und Prognosen geschärft werden können.

Viele ähnliche Möglichkeiten gibt es für Produkte – unabhängig davon, ob es um deren Entwicklung oder ihre Verwendung auf dem Markt und eventuelles Verbesserungspotenzial geht. Durch die visuelle Darstellung eines Assets oder einer Gruppe von Assets in der digitalen Welt und deren Anreicherung mit Daten aus der physischen Welt ergeben sich viele transformative Möglichkeiten. Im Folgenden stellen wir Ihnen einige davon vor.

Digitale Zwillinge zum Laufen bringen

Produktprüfung: Mit Blick auf das Beispiel der Reifen zu Beginn dieses Artikels wird deutlich: Mit einem digitalen Zwilling ist es nicht mehr nötig, auf Leistungsdaten aus Fahrzeugversuchen zu warten, um Qualität und Leistung zu bestimmen.

Die Leistung eines Produkts – etwa eines neuen Reifens unter verschiedenen Wetterbedingungen – lässt sich simulieren, um das Design proaktiv zu verbessern und virtuell mit verschiedenen Zusammensetzungen und Rohstoffen zu experimentieren. So lässt sich die Leistung unter unterschiedlichen Bedingungen optimieren.

Die Leistung des Produkts lässt sich vorhersagen und Änderungen lassen sich in Echtzeit vornehmen, um die optimale Konfiguration zu ermitteln (zum Beispiel um die Sicherheitsnormen für Reifen zu erfüllen). Sogar der Ersetzungsbedarf kann aus einer Vielzahl von Leistungsfaktoren wie beispielsweise dem Fahrverhalten simuliert werden.

Steigerung der Produktionskapazität: Bei jeder neuen Produkteinführung wird der bestehende Montageplan unterbrochen. Bevor Geld für die Inbetriebnahme neuer Anlagen und die Erweiterung der Produktionskapazität ausgegeben wird, können auf der Basis der jeweiligen Eigenschaften und Anforderungen der Produktion Auswirkungen auf Produktionskapazität und Zeitplan simuliert werden.

Zum Beispiel kann ein Autohersteller womöglich nur eine bestimmte Anzahl Cabriolets an einem Tag produzieren, weil die Verkabelung des Daches einen zusätzlichen Prozess erfordert. Den könnten zwar weitere Mitarbeiter leisten, aber nicht die Produktionsstraße. Deren Auslastung muss mit der Anzahl der anderen Autos, die produziert werden – denen mit Schiebedach zum Beispiel –, und mit dem jeweiligen Prozentsatz, der von einem Modell pro Tag hergestellt werden kann, auf der Grundlage von Auftragsmustern abgestimmt werden.

Mit einem digitalen Zwilling kann die Montagelinie auf der Grundlage der Optionen simuliert werden, noch bevor die Woche geplant ist. Dann ist bereits erkennbar, wo Prozessprobleme lauern. Sogar virtuelle Geräte lassen sich aus technischer Sicht in Echtzeit testen, bevor sie fest installiert werden.

Infrastruktur der Anlage: Und wenn Sie eine Anlage überwachen könnten, ohne physisch anwesend zu sein? Mit einem digitalen Zwilling lässt sich dies und noch mehr umsetzen. So kann man etwa mit virtueller Realität eine Führung durch den Fertigungsbereich eines Werks in Mexiko machen und Mitarbeiter von einem Laptop aus schulen. Bei einem digitalen Zwilling muss das Gerät nicht einmal physisch installiert werden, um anderen den Umgang damit zu zeigen.

Anlagenwartung: Durch die Überwachung der Echtzeitdaten von IoT-Sensoren im Fertigungsprozess kann der digitale Zwilling auch simulieren, wann eine Wartung für wichtige Geräte erforderlich wird. Er kann sogar über den Zustand einer gesamten Produktionslinie, einer Fabrik oder eines Fabriknetzes Auskunft geben. In einem Bericht von 2018 schätzt Gartner, dass Unternehmen (und Verbraucher) dank des Einsatzes von IoT durch digitale Zwillinge jährlich 1 Billion US-Dollar bei der Wartung von Anlagen einsparen werden.

Gezielte Rückrufe: Wenn wichtige Produktkomponenten und deren Seriennummern in einem digitalen Zwilling getrackt werden – wodurch sie rückverfolgbar sind –, müssen im Falle eines Problems nicht Zehntausende von Produkten zurückgerufen werden. Die Anstrengungen lassen sich auf die direkt betroffenen Produkte beschränken – zum Beispiel, indem man eine Lieferung von Einzelteilen lokalisiert, die beim Transport aus Übersee korrodiert sind.

Einzelhandel: Der digitale Zwilling hilft sogar in Bereichen mit Kundenkontakt. Ein digitaler Zwilling der produzierten Fahrzeuge mit 3D-Visualisierung ermöglicht es einem potenziellen Käufer beispielsweise, das Auto online in verschiedenen Farben anzusehen. Gleiches gilt für unterschiedliche Optionen im Fahrzeuginnenraum. So entsteht ein reicheres und personalisiertes Kundenerlebnis.

Ersatzteilmarkt/Verbraucherservice: Auf dem Gebrauchtwagenmarkt müssen Verbraucher den Zustand eines Fahrzeugs schätzen oder sich eventuell durch Vergleichsportale klicken. Wer einem Fahrzeug eine digitale Identität verleiht (mit einem digitalen Zwilling und einer Blockchain), kann verfolgen, wie oft es gewartet wurde, und Fragen wie diese beantworten: Wurden bei der Reparatur Originalteile oder solche vom Ersatzteilmarkt verwendet? Gab es, basierend auf einer Auswirkungsanalyse, einen nicht registrierten Unfall?

Der Zwilling enthält alle Leistungs-, Sensor- und Inspektionsdaten in Echtzeit sowie die Servicehistorie, Konfigurationsänderungen, Ersatzteil- und Garantiedaten.

Lieferkette: Digitale Zwillinge ermöglichen es, Ereignisse, die sich auf die Lieferkette auswirken – wie eine Naturkatastrophe oder ein Handelsstreit mit einem wichtigen Land –, zu überwachen und zu simulieren. Daraus lässt sich schließen, wie man proaktiv reagieren kann.

Wenn zum Beispiel die Auswirkungen reduzierter Rohstofflieferungen aus China simuliert werden sollen, kann ein digitaler Zwilling bei der Entscheidung helfen, wie Kundenverpflichtungen effizient erfüllt werden können. Hersteller können verschiedene Datenpunkte nachbilden – etwa wie lange die Komponente unterwegs oder ob sie verderblich ist – und anfangen, proaktiver zu handeln.

Doch das kratzt nur an der Oberfläche dessen, was ein digitaler Zwilling leisten kann. In einem weiteren Artikel werden wir die Supply-Chain-Frage genauer unter die Lupe nehmen und untersuchen, wie andere Technologien sie von Anfang bis Ende revolutionieren können.

 

Fazit

Durch die visuelle Darstellung eines Produkts, Geräts, Prozesses oder der Lieferkette im digitalen Bereich und deren Anreicherung mit Echtzeit-Sensordaten, die auf der physischen Welt basieren, erweitern digitale Zwillinge die Grenzen des Möglichen und bieten eine virtuelle Testumgebung für intelligentere Produkte und Produktionen sowie für optimierte Lieferketten.

Über diesen Artikel

Autoren
Sven Dharmani

EY Global Advanced Manufacturing & Mobility Supply Chain Leader

Passionate about transforming supply chains. Problem solver. Curious and collaborative. Avid traveler, scuba diver and car enthusiast.

Sachin Lulla

EY Advanced Manufacturing & Mobility, Global Digital Strategy & Transformation Leader

Internet of Things strategist. Digital influencer. Sector-focused thinker. Keynote speaker. Proud husband and father.