Luftaufnahme von Solarpark Gillespie

Wie Versicherer die langfristige Wertschöpfung verfolgen können

Angesichts der Tragweite und Komplexität der Nachhaltigkeitsthematik müssen Versicherer neue Kennzahlen kreieren und weitere zielgerichtete, pragmatische Maßnahmen ergreifen.


Überblick

  • Vorstände und Führungskräfte im Versicherungswesen wissen um die enormen potenziellen Auswirkungen von Nachhaltigkeit und die Bedeutung einer klaren Haltung.
  • Versicherer müssen ganzheitliche langfristige Strategien entwickeln und im Jetzt pragmatisch vorgehen.
  • Derzeit eignen sich der Total Shareholder Return, der Markenwert, das ökonomische Eigenkapital und die Gesamtkapitalrendite zur Messung der Nachhaltigkeitsperformance.

Umwelt-, Sozial- und Governance-Themen (ESG) sind seit Ausbruch der COVID-19-Pandemie noch schneller auf dem Vormarsch. Damit hatten viele Führungskräfte im Versicherungswesen nicht gerechnet. Durch soziale Probleme, das branchenspezifische und makroökonomische Umfeld, Umweltbedrohungen sowie politische und regulatorische Entwicklungen hat sich ein "perfekter Sturm" zusammengebraut.

Vorstände und Führungskräfte sind sich der Trageweite der Nachhaltigkeitsthematik und der Auswirkungen bewusst. Die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit und der Verantwortungsübernahme durch Unternehmen wird immer lauter. Das Wohl und Wehe der Branche ist mit den Klimarisiken, dem materiellen sowie finanziellen Fortschritt und dem wirtschaftlichen Aufschwung eng verbunden. Auf dem Weg aus der Pandemie stehen Versicherer jetzt unter Zugzwang.

 

Die Führungskräfte im Versicherungswesen müssen die Nachhaltigkeitsthematik und die Erwartungen der Stakeholder neu bewerten. Sie müssen zunächst die Auswirkungen auf die finanzielle Performance, die öffentliche Wahrnehmung und die Wertschöpfung einschätzen. Erst dann können sie entscheiden, in welchem Maße sie reagieren. Angesichts des zunehmenden Handlungsdrucks müssen sie pragmatisch vorgehen.

 

Ein pragmatischer Ansatz ist sinnvoll, um sofortige Maßnahmen zu identifizieren und umzusetzen. In diesem Artikel werden einige Ideen vorgestellt, die in Gesprächen mit Führungskräften und Vorständen im Versicherungswesen entstanden sind. Auf folgende Themen wird eingegangen:

  • Aktueller Stand der Überlegungen und Handlungspläne der Versicherer in Sachen Nachhaltigkeit
  • Wie lang ist „langfristig“?
  • Das notwendige Gleichgewicht von kurzfristigem Erfolg und längerfristigen Nachhaltigkeitszielen (Stichwort „Netto null 2050“)
  • Kennzahlen zur Messung der ESG-Performance und zum Vergleich mit anderen Versicherern
  • Warum Zielvorgaben als Entscheidungsrahmen nützlich sind

Die Führungskräfte im Versicherungswesen sind sich der Dringlichkeit bewusst. Auf einem von EY im März 2021 veranstalteten Webinar nannten die Teilnehmer viele verschiedene Maßnahmen, von der Festlegung von Prioritäten bis hin zur Änderung des Betriebsmodells, die alle als dringend angesehen werden.

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In diesem Artikel geht es in erster Linie um die ökologischen Aspekte von ESG, aber auch um soziale Themen wie Vielfalt und Integration oder wirtschaftliche Ungleichheit. Da diese Themen erhebliche Reputations- und finanzielle Risiken bergen, müssen sich auch die obersten Führungsebenen mit ihnen auseinandersetzen. Es wird immer wichtiger, die Leistung in diesen Bereichen zu messen und darüber zu berichten (z. B. über die Zusammensetzung der Belegschaft nach Geschlecht und ethnischer Zugehörigkeit oder über LGBTQ-Maßnahmen). Natürlich sind auch die Kennzahlen zur Unternehmensführung (das G in ESG) von Bedeutung. Allerdings sind diese bereits besser etabliert und werden in breiterem Umfang verfolgt.

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Kapitel 1

Wie Versicherer bisher auf die Nachhaltigkeitsthematik reagiert haben

Die Versicherer haben unterschiedliche Ansichten zur Nachhaltigkeitsthematik, wobei viele Anstrengungen noch nicht anerkannt werden

Vieles deutet darauf hin, dass die Branche in der Pandemie ihrer Aufgabe, Schutz vor potenziell schwerwiegenden Risiken und Bedrohungen zu bieten, gerecht wurde. Dasselbe kann man über ihre Reaktion auf die sozialen und Rassenunruhen im letzten Jahr sagen. Die Versicherer haben ihre Programme zur Förderung von Vielfalt und Integration ausgeweitet und ihr Engagement für Gleichberechtigung deutlich gemacht. Mehrere Versicherer sind Vorreiter bei der Umsetzung von Nachhaltigkeitsstrategien, wobei sich viele an den Zielen für nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen (SDGs) orientieren.

Wie im ESG-Bericht der Citibank vom November 2020 festgestellt wurde, erhalten die Versicherer nicht genügend Anerkennung für die Arbeit, die sie in diesem Bereich geleistet haben. Bis zu einem gewissen Grad ist dies dem mangelnden Vertrauen geschuldet, mit dem die Branche nach wie vor zu kämpfen hat. Im vergangenen Jahr wurde die Branche jedoch auf eine einzigartige und ernsthafte Probe gestellt. Die mit dem Klima verbundenen Risiken werden den Sektor auch in den nächsten Jahren – und möglicherweise Jahrzehnten – vor ähnliche Herausforderungen stellen.

Das Tempo wie auch die Bandbreite und Tiefe der Reaktionen auf den Klimawandel und andere soziale Fragen sind bei den Versicherern bisher sehr unterschiedlich. Die Meinungen darüber, wie schnell das Engagement in „braunen Industriezweigen“ in den Anlagenportfolios abgebaut, der Übergang zur Klimaneutralität beschleunigt oder mehr Kapital in erneuerbare Energien umgeschichtet werden soll, weichen stark voneinander ab.

In Bezug auf ESG verfolgen die Versicherer verschiedene Ansätze:

  • All-in: Es werden neue Unternehmensziele aufgestellt und die Strategien nach Maßgabe der Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen neu ausgerichtet.
  • Skepsis: Sollte die Branche wirklich in die Pflicht genommen und gezwungen werden, langfristige Projekte im Bereich erneuerbare Energien zu finanzieren, wobei unklar ist, ob sich diese amortisieren und Versicherungsnehmer ein Risiko eingehen? Nachhaltigkeitserklärungen werden als „Greenwashing“ angesehen oder als reine PR bezeichnet.
  • Geringstmöglicher Aufwand: ESG-Vorgaben werden lediglich eingehalten, es wird nur das Nötigste getan, um in den Augen von Anlegern und Aufsichtsbehörden gut dazustehen.
  • Abwartende Haltung: Während darauf geachtet wird, dass Stresstests und Offenlegungspflichten erfüllt werden, wird die Stimmung unter Mitarbeitern, Investoren, Wettbewerbern und Verbrauchern beobachtet, ehe darüber entschieden wird, ob weitere Zeit und Ressourcen investiert werden sollen.

Vorstände, CEOs, CROs, CFOs, leitende Versicherungsmathematiker und COOs sind sich nicht immer einig, wie ihre ESG-Strategien aussehen sollen oder inwieweit Nachhaltigkeit in die Geschäfte einzubeziehen ist. Oftmals führen einzelne Geschäftsbereiche und Regionen eigene Initiativen durch, sodass es schwierig ist, den Stakeholdern eine kohärente Botschaft zu vermitteln. Von einem einheitlichen, soliden und pragmatischen Entscheidungsrahmen – was ist zu tun, in welcher Reihenfolge, wie schnell, warum und mit welchem finanziellen Nutzen? – können viele Versicherer nur profitieren. Das gilt für ökologische und soziale Fragen, aber auch für alles andere, was unter Nachhaltigkeit fällt.

Die Versicherer stehen vor vielfältigen und weitreichenden Herausforderungen. Sie sehen sich unter starkem Druck, die kurzfristigen Erwartungen von Aktionären, Kunden, Gemeinschaften und der Regierung zu erfüllen und zur Lösung des Klimawandels und anderer sozialer Probleme (z. B. der Altersvorsorgelücke) beizutragen. Gleichzeitig müssen sie kritische Geschäftsbereiche neu aufstellen und für die Zukunft vollkommen neue Lösungen erarbeiten, ohne dass sich eindeutig eine Rendite abzeichnet.

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Kapitel 2

Langfristige Wertschöpfung und kurzfristiger Zwang

Die Versicherungsbranche weiß mehr über die langfristige Wertschöpfung als jede andere Branche

Ein bemerkenswerter Aspekt der auf ökologische und soziale Probleme ausgerichteten Form des Wirtschaftens besteht darin, dass nicht nur finanzielle Kennzahlen herangezogen werden, um die Entwicklung von Unternehmen und ihres Beitrags für eine breitere Gruppe zu messen. Während sich Versicherer stärker als viele andere Unternehmen auf die langfristige Wertschöpfung konzentrieren, hat die Ausschüttung von Dividenden und Aktienrückkäufe häufig Vorrang gegenüber Investitionen (z. B. in Forschung und Entwicklung, Technologien und Ausbildung). Die Verschiebung hin zu einem besseren Gleichgewicht zwischen rein finanziellen Ergebnissen (die vierteljährlich und jährlich berichtet werden) und einer ganzheitlicheren Perspektive auf eine längerfristige Wertschöpfung wird eine bedeutende Veränderung darstellen. Für die Entwicklung von Kennzahlen zur langfristigen Wertschöpfung wurde bereits eine Reihe von Konzepten erarbeitet, darunter auch im Rahmen des von EY geleiteten Embankment Project for Inclusive Capitalism (EPIC) (PDF) und vom International Business Council des Weltwirtschaftsforums (WEF-IBC).

Langfristige Wertschöpfung kann unserer Ansicht nach als das kumulative Ergebnis einer Reihe von weisen Geschäftsentscheidungen betrachtet werden, im Tagesgeschäft, vor allem aber auch strategisch, die durch eine klare Zielformulierung aufeinander abgestimmt sein müssen. Da der unmittelbare Druck auf die Versicherer, in Sachen ESG klar Stellung zu beziehen, zunimmt, werden sie wohl konkretisieren müssen, wie sie Werte erhalten wollen. Abgesehen von dem derzeit komplexen Geschäftsumfeld ergeben sich für Versicherer durch ESG noch weitere Risiken: Klimarisiken, die Risiken des Übergangs zu einer umweltfreundlicheren Wirtschaft und das Reputationsrisiko, das mit der weit verbreiteten Wahrnehmung von Aufsichtsbehörden, Mitarbeitern, Investoren und Verbrauchern verbunden ist, dass Versicherer „nicht das Richtige tun“.

All diese Themen werfen eine grundlegende Frage auf: Was bedeutet eigentlich „langfristig“? EY vertritt die Auffassung, dass „langfristig“ als eine Generation definiert werden kann, wobei Sozialwissenschaftler in der Regel von 15–20 Jahren und Genealogen von 20–30 Jahren ausgehen. Vor dem Hintergrund des Zieles der Vereinten Nationen, bis 2050 eine kohlenstoffneutrale Wirtschaft zu schaffen, sind unserer Meinung nach 30 Jahre ein solider Richtwert für Versicherer und ihre Entwicklung tragfähiger ESG-Strategien.

Für eine Branche, die seit Jahrhunderten existiert und ihre Widerstandsfähigkeit und Anpassungsfähigkeit eindrucksvoll unter Beweis gestellt hat, sind 30 Jahre ein recht kurzer Zeithorizont. Das Versicherungswesen hat sich mit dem gesellschaftlichen Fortschritt weiterentwickelt und die Risiken im Zusammenhang mit Umweltkatastrophen, globalem Handel und bahnbrechenden Innovationen abgedeckt – von der transkontinentalen Schifffahrt über die Luftfahrt bis hin zum Supercomputer – und auf diesem Weg bei jedem Schritt Werte geschaffen und erhalten.

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Dennoch gibt es viele komplizierte Überlegungen, wie die langfristige Wertschöpfung gemessen und darüber berichtet werden kann. Zwischen dem Verhalten der verschiedenen Stakeholder und den ökologischen und gesellschaftlichen Problemen, die mit den Nachhaltigkeitszielen der Vereinten Nationen gelöst werden sollen, bestehen grundlegende Konflikte:

  • Anleger trachten nach Renditen in Zyklen von drei bis fünf Jahren.
  • Angestellte bleiben nur kurz im Unternehmen.
  • Verbraucher sind sehr wählerisch und suchen immer nach einem besseren Angebot oder der nächsten Neuheit.

An dieser Dynamik wird sich wohl nie etwas ändern. Für die Versicherer bedeutet dies, dass sie ihr Geschäft und die Wertschöpfung an mehreren Zeithorizonten ausrichten müssen, um den verschiedenen Interessengruppen so gut wie möglich gerecht zu werden.

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Die breite Umsetzung von Konzepten der langfristigen Wertschöpfung und die Einführung allgemein anerkannter Kennzahlen wird noch viel Zeit in Anspruch nehmen. Bis auf weiteres werden vor allem die bekannten Finanzkennzahlen dazu dienen, die Wertschöpfung zu messen und die Anleger und andere Interessengruppen entsprechend zu informieren.

Der Drang, alles zu messen, ist verständlich. So führten Versicherer zwar die ESG-Berichterstattung einschließlich nichtfinanzieller Kennzahlen ein, diese hat jedoch nicht selten keinen klaren Nutzen. Die Herausforderungen im Hinblick auf die Daten sind bekannt und zugleich entmutigend: Die Quellen sind zahlreich und die Daten nicht ausreichend konsistent.

Eine weitere Herausforderung besteht darin, dass viele der Kennzahlen vom Input abhängig sind. Das macht es für Vorstände oder Investoren schwierig, die Auswirkungen auf die gleiche Weise zu messen wie bei finanziellen Kennzahlen. Daher besteht ein hohes Risiko, dass viel Zeit und Geld für die Berichterstattung aufgewendet wird, ohne dass es einen Nutzen gibt, und der Blick auf das große Ganze verloren geht.

Aufgrund des langfristigen Charakters vieler Verträge und Risiken stehen den Versicherern derzeit wohl mehr Instrumente zur Messung der langfristigen Wertschöpfung zur Verfügung als Unternehmen aus anderen Branchen. Aus unserer Sicht ist es daher sinnvoller, mit vier bekannten und weithin akzeptierten Finanzkennzahlen zu beginnen und diese zu verfeinern, um der zunehmenden Bedeutung von ESG-Faktoren gerecht zu werden.

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Kapitel 3

Vier Kennzahlen zur Verfolgung der kurzfristigen Wertschöpfung von ESG-Strategien

Mit den richtigen Kennzahlen lassen sich die Auswirkungen der ESG-Strategien und die Fortschritte bei der Erreichung der Ziele genau messen

Während sich die Anforderungen an die Versicherer bezüglich der ESG-Berichterstattung an eine breitere Gruppe von Stakeholdern derzeit stark verändern, glauben wir, dass vor allem vier Kennzahlen einige der Risiken erfassen, die mit dem Klimawandel und der umfassenden Umweltagenda in Zusammenhang stehen:

  1. Total Shareholder Return
  2. Markenwert
  3. ökonomisches Eigenkapital
  4. Gesamtkapitalrendite


Diese vier Kennzahlen stellen unserer Meinung nach ein Barometer dar, das die Exponierung gegenüber Risiken im Zusammenhang mit dem Klimawandel und der öffentlichen Wahrnehmung, die die Wertentwicklung der Versicherer in den nächsten 3 bis 18 Monaten bedrohen, recht genau und umfassend misst. Es sei aber noch einmal gesagt: Weitere Kennzahlen sind notwendig, um die soziale und die Governance-Komponente der Wertschöpfung zu bewerten.

Weshalb glauben wir, dass diese Kennzahlen derzeit am ehesten dazu dienen, die öffentliche Wahrnehmung des Einsatzes der Branche für Nachhaltigkeit zu messen? Hier sind einige Gründe:

  • Sie sind pragmatisch und praxisgerecht.
  • Sie sind allgemein anerkannt.
  • Einige Versicherer ermitteln und berichten sie bereits.
  • Sie werden oftmals im Rahmen von Standardprüfungsverfahren abgesegnet.

Sie lassen sich auch leicht in Unterkennzahlen zerlegen, um die Unternehmen auf Herz und Nieren zu prüfen. Außerdem lassen sie sich mit nichtfinanziellen Kennzahlen abgleichen und bieten verschiedenen Interessengruppen einen Überblick über die Lage. Zudem tragen sie mehreren Zeithorizonten und verschiedenen Interessengruppen Rechnung und spiegeln auch kurzfristige Wertvernichtung und -sicherung wider.

Da Finanzkennzahlen auch künftig in der Kommunikation mit den Stakeholdern dominieren werden, dürften sie auch eher angenommen werden. Um anspruchsvollere „hybride“ Kennzahlen zu entwickeln, die die Beziehungen zwischen ESG- und finanzieller Performance genau und glaubwürdig spiegeln, bedarf es mehr Zeit. Solche Kennzahlen über Versicherer werden gleichwohl nur eine begrenzte Bedeutung haben. Allerdings werden Versicherer diese Daten für Investitionsentscheidungen und im Underwriting nutzen können, sobald die Standards festgelegt sind. Dies ist ein iterativer Prozess, an dem viele Branchen beteiligt sind.

Total Shareholder Return

Diese Kennzahl schließt alle Zeithorizonte ein – von Minuten (z. B. Handelsvolumen, Kursschwankungen) bis zu Jahren und Jahrzehnten (z. B. die gesamte Dauer der Börsennotierung eines Versicherers). Außerdem bezieht sie die langfristigen Wachstumsaussichten eines Unternehmens, die Widerstandsfähigkeit, Reputation, Innovationsbereitschaft, die Fähigkeit, Verbraucher-, Gesellschafts- und Umweltbelange zu berücksichtigen und behördliche Auflagen zu erfüllen, umfassend mit ein.

Eines der drängendsten Themen für die Führungsebene ist derzeit das ESG-Rating, das ein Unternehmen von Aktienanalysten erhält. Es stellt ein großes Problem dar, wie uneinheitlich diese Bewertungen zustande kommen. Die Bedenken sind berechtigt, zumal sich diese Einstufungen auf den Aktienkurs und das Interesse der Anleger auswirken können (so werden institutionelle Anleger möglicherweise aufgrund ihrer neuen ESG-Richtlinien von einer Anlage absehen). Viele Führungskräfte in der Versicherungsbranche befürchten, dass schlechte oder auch nur mittelmäßige ESG-Ratings sie im Vergleich zu ihren Konkurrenten schlecht aussehen lassen und zu Kursverlusten führen.

ESG-Ratings sind ein wichtiges Kriterium für die Aufnahme in ESG-Indizes (z. B. DJSI, MSCI). In den letzten zwölf Monaten haben sich die Zuflüsse in „grüne“ aktive Fonds und ETFs im Vereinigten Königreich und auf anderen Märkten verfünffacht. Aktien, die in diese Art von Fonds aufgenommen werden, verzeichnen in der Regel einen Kursanstieg. Wer hier nicht dabei ist, dem droht eine schlechtere Performance im Vergleich zu seinen Mitbewerbern.

Da immer mehr Anleger ESG-Kriterien in ihre Anlageentscheidungen einbeziehen, dürften die Aktien von Unternehmen, die diese Kriterien erfüllen, hinzugewinnen. Auf kurze und mittlere Sicht dürfte die Kursentwicklung also ein guter Gradmesser dafür sein, wie gut einzelne Versicherer ihre ESG-Daten und ihre Vorhaben präsentieren.

Wir sind überzeugt, dass Unternehmen, die eine langfristige Wertschöpfung anstreben, den Anlegern langfristig auch bessere Renditen bieten. Der Total Shareholder Return ist für sich genommen ein nützlicher Indikator, doch die Probleme bei der Zerlegung in Teilindikatoren sind bekannt. Die folgenden drei Kennzahlen weisen eine gewisse Korrelation zum Total Shareholder Return auf und lassen sich leichter in die zugrunde liegenden treibenden Kräfte zerlegen.

Markenwert

Der immaterielle, aber messbare Markenwert kann als Maßstab für die langfristige Wertschöpfung herangezogen werden. Er ist unmittelbar mit dem Shareholder Value korreliert. Der Unternehmenswert verhält sich ähnlich wie der Markenwert. Marken werden strategisch aufgebaut, um eine starke Wahrnehmung und positive Assoziationen (z. B. Vertrauen und Zuversicht) bei Investoren, Kunden und Mitarbeitern zu schaffen. Dies schlägt sich in der finanziellen Performance sowohl beim Umsatz als auch beim Gewinn und in der Preisgestaltungsmacht nieder.

In der Wahrnehmung von Versicherungen dominieren in der Regel Attribute wie Finanzkraft, Stabilität und Beständigkeit. Eine auf Nachhaltigkeit ausgerichtete Geschäftspolitik, worunter auch Transparenz und Rechenschaftspflicht fallen, kann die bisherige Positionierung hervorragend ergänzen.

Umgekehrt können Unternehmen, die sich nicht glaubwürdig für eine umweltfreundlichere Wirtschaft, Vielfalt in der Belegschaft, ethische Geschäftspraktiken und eine gerechtere Gesellschaft einsetzen, mit Gegenwind in der Öffentlichkeit und verstärkter behördlicher Kontrolle rechnen. Dem folgen wahrscheinlich schlechtere Ratings und letztlich ein Rückgang des Unternehmenswerts. Mit anderen Worten: Geschädigte Marken können zu sinkenden Aktienkursen führen.

Marken sind für Unternehmen gerade deshalb so wertvoll, weil sie auch für andere Interessengruppen wie Kunden, Mitarbeiter, Lieferanten und Partner von Bedeutung sind. Entsprechende Bewertungen werden zwar oft als „weiche“ Kennzahlen bezeichnet, sie sind jedoch messbar und werden im Zeitalter von ESG immer wichtiger, um den Unternehmenswert zu ermitteln.

Ökonomisches Eigenkapital – einschließlich eingebetteter Wertkennzahlen und gleichwertiger regulatorischer und buchhalterischer Messgrößen

Der Zeithorizont des Versicherungswesens ist aufgrund der Art der Risiken, die durch die Policen abgedeckt werden, zwangsläufig langfristig. Aufgrund der kurzfristigen Ausrichtung alter Rechnungslegungsstandards legen die Versicherer seit einiger Zeit verschiedene Non-GAAP-Kennzahlen (einschließlich Market Consistent Embedded Value und Eigenmittel nach Solvency II) offen, um Aktionären ihr ökonomisches Eigenkapital (Economic Net Worth, ENW) und ihre Fähigkeit zur langfristigen Wertschöpfung darzustellen. Mit der Einführung von IFRS 17 im Jahr 2023 werden die Anleger auch in der Lage sein, eine GAAP-Messung des ENW abzuleiten.

Das Wachstum des ENW im Laufe der Zeit ist ein guter Indikator dafür, ob ein Unternehmen seinen Wert langfristig steigert oder schwächt. Wir beobachten jedoch, dass sich das Risiko- und Ertragsprofil sowohl auf der Aktiv- als auch auf der Passivseite infolge von ESG-Erwägungen erheblich verändert. Daher erwarten wir, dass sich der Bewertungsansatz noch weiterentwickeln wird.

Auf der Aktivseite, insbesondere bei Lebensversicherern, führt die zunehmende Fokussierung auf ESG zur Notwendigkeit, die Portfolios neu zu gewichten. Die Kunden erwarten in zunehmendem Maße eine sozial verantwortliche Anlagepolitik. Vor kurzem haben die Treuhänder eines großen britischen Pensionsfonds bei der Vergabe eines großen Buy-out-Geschäfts die ESG-Richtlinien berücksichtigt und sich Gedanken darüber gemacht, wie sie den Rentenempfängern in den nächsten 30 Jahren und darüber hinaus am besten gerecht werden können. Auch muss der Druck berücksichtigt werden, Vorschriften einzuhalten und Strategien zu entwickeln, um ein positives ESG-Rating zu gewährleisten und den Markenwert zu erhalten. Natürlich muss der Aktienkurs ebenfalls bedacht werden. Änderungen im Anlageportfolio und in der Anlagepolitik werden jedoch Auswirkungen auf die Wertschöpfung und den Werterhalt haben, die in den nächsten 10 bis 50 Jahren spürbar sein werden.

An erster Stelle steht das Engagement im „braunen“ Sektor. Die Versicherer müssen einen Zeitplan und ihre Vorgehensweise festlegen, um die Netto-null-Ziele bis 2050 zu erreichen, wobei manche den Zeitpunkt vielleicht vorziehen wollen. Es muss eine Entscheidung getroffen werden, ob man gewisse Positionen bis zum Ende hält oder bewusst aussteigt. Um den richtigen Kurs zu wählen, müssen die Versicherer den künftigen Wert dieser Vermögenswerte einem Stresstest unterziehen. Wir gehen davon aus, dass das ökonomische Eigenkapital durch revidierte zukunftsorientierte Annahmen über den risikobereinigten Wert brauner Vermögenswerte beeinflusst wird, was im Laufe der Zeit diejenigen Unternehmen bestrafen würde, die sich am langsamsten umstellen.

Hinzu kommt, dass Mark Carney, ehemaliger Vorsitzender der Bank of England und UN-Sonderbeauftragter für Klimaschutz und Finanzen, der Branche eine entscheidende Rolle bei der Finanzierung langfristiger Projekte im Bereich erneuerbare Energien zuschreibt. Versicherer, die diese Rolle annehmen, müssen einen tiefen Einblick in ihre prognostizierten Renditen und Amortisationszeiten haben und sich auf ihre Prognosen verlassen können. Aufgrund der langfristigen und illiquiden Natur dieser Investitionen eignen sie sich hervorragend für die Deckung langfristiger Verbindlichkeiten, was bei der Berechnung des ökonomischen Eigenkapitals häufig honoriert wird. Unternehmen, die mit diesem Trend gehen und ein tiefes Verständnis für die Risikoprofile dieser Investitionen entwickeln, werden den Beitrag zum Wachstum des ökonomischen Eigenkapitals besser nachweisen können.

Auf der Passivseite, insbesondere bei den Schaden- und Unfallversicherern, sehen wir einen ähnlichen Druck, bei der Auswahl der Projekte, Branchen und Unternehmen, die sie versichern wollen, selektiver vorzugehen, um die erklärten Netto-null-Ziele zu erreichen. In einigen Fällen werden Branchen gänzlich zur Debatte stehen. So haben bereits mehrere Unternehmen öffentlich erklärt, dass sie sich aus der Versicherung bestimmter Risikopools zurückziehen wollen (z. B. Kohlekraftwerke).

Häufig werden diese Entscheidungen im Underwriting jedoch nicht so eindeutig sein und es werden flexiblere Instrumente benötigt. Wie auf der Aktivseite werden „braune“ Kunden und Branchen in Zukunft ein anderes versicherungstechnisches Risikoprofil haben als in der Vergangenheit. „Grüne“ Kunden und Branchen werden den Unternehmen, die diese Risikoprofile am besten verstehen, neue Gewinnquellen im Underwriting eröffnen.

Sowohl bei den Aktiva als auch den Passiva sollten die Unternehmen die Art und Weise, wie sie ihre aktuellen Werte messen, überprüfen, um der Tatsache Rechnung zu tragen, dass sich die Risikoprofile und Zukunftserwartungen als Reaktion auf die Klimaschutzmaßnahmen verändern. Auf dieser Grundlage können sie eine solide Bewertung ihres aktuellen ökonomischen Eigenkapitals vornehmen. Außerdem sollten sie neue Daten, Annahmen und Bewertungstechniken für umweltfreundliche Vermögenswerte und Verbindlichkeiten hinzuziehen, die sich auf die langfristige Wertschöpfung auswirken.

Gesamtkapitalrendite

Der kapitalintensive Charakter des Versicherungsgeschäfts ergibt sich aus dem Bedarf an hohen Rückstellungen für die vielfältigen übernommenen Risiken, die über ein breites Spektrum von Zeithorizonten laufen (z. B. Langlebigkeit, Sterblichkeit, Morbidität und klimabedingte Risiken). Die Gesamtkapitalrendite (Return on Capital, ROC) misst die Fähigkeit, Risiken effektiv zu zeichnen, zu bepreisen und zu verwalten, um positive Renditen zu erzielen.

Viele Versicherer verfügen bereits über eine ausgefeilte Risikomodellierung, die häufig durch aufsichtsrechtliche Kapitalanforderungen vorgeschrieben ist, und führen Stresstests für die wichtigsten Risikofaktoren durch, um eine angemessene Kapitalausstattung zu gewährleisten. Die risikobasierten Eigenkapitalanforderungen sind ein guter Indikator für die Exponierung gegenüber „Tail-Risiken“, und die Unternehmen, die imstande sind, eine positive Gesamtkapitalrendite zu erwirtschaften, sind oft am besten in der Lage, beim Underwriting diese Risiken mit einzupreisen.

In der Branche wächst die Bereitschaft, Klimarisiken (einschließlich physischer Risiken und Übergangsrisiken) in die unternehmensinternen Kapitalmodelle aufzunehmen. Auch die Aufsichtsbehörden wollen Tests von Klimaszenarien einführen. Wir gehen davon aus, dass sich die Daten zu den Klimaauswirkungen und -exponierungen erheblich weiterentwickeln werden und dass die Gesamtkapitalrendite zunehmend zu einem wichtigen Gradmesser für den Erfolg eines Versicherers beim Management seiner Risiken wird.

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Kapitel 4

Der Beginn der Ära des nachhaltigen Kapitalismus

Um die Wirtschaft auf soziale und ökologische Ziele auszurichten, bedarf es kurzfristiger Maßnahmen, die auf langfristige Strategien abgestimmt sind

Es ist zwar eine gute Nachricht, dass viele der von den Versicherern bereits verfolgten Aspekte – vor allem die Finanzkennzahlen – für die Messung der langfristigen Wertschöpfung nützlich sind, doch müssen auch einige Dissonanzen beseitigt werden. Die Finanzkennzahlen der Branche haben sich über mehr als 100 Jahre hinweg entwickelt, sind gut etabliert und in der Regel zwischen den Unternehmen vergleichbar. Die ESG-Daten hingegen wurden erst in jüngster Zeit konzipiert und sind nicht für alle Unternehmen standardisiert. Angesichts dieser Diskrepanz sehen wir es als notwendig an, dass die Branche daran arbeitet, passende Kennzahlen zu definieren und den richtigen Kontext zu schaffen, anstatt sich auf einen einfachen Ansatz zu beschränken.

Die COVID-19-Pandemie und das zunehmende Bewusstsein für wirtschaftliche Ungleichheit haben die Dynamik beschleunigt, was ökologische und soziale Verantwortung angeht. Mächtige Kräfte werden die Volkswirtschaften auf absehbare Zeit verändern. Diese Trends sind im Management nicht gerade beliebt, doch wir stehen noch ganz am Anfang, was bedeutet, dass Unsicherheit besteht, Informationen widersprüchlich sind und die Politik sich verändern wird.

Neue aufsichtsrechtliche Vorgaben (z. B. für Stresstests und ausführlichere Informationen) werden Maßnahmen erforderlich machen. Sich allerdings nur auf die Einhaltung von Vorschriften zu konzentrieren ist angesichts der veränderten Rahmenbedingungen und der enormen Chancen, die sich bieten, auf lange Sicht nicht ausreichend. Viele Vorstände fühlen sich zunehmend unter Druck gesetzt, etwas in Sachen Nachhaltigkeit zu tun. Häufig sind sie jedoch eher vorsichtig und wollen nicht zu weit vorpreschen, um den Versicherungsnehmern und Aktionären nicht zu schaden.

Es sei daran erinnert, dass sich das Versicherungswesen in den vielen Jahrhunderten seines Bestehens an viele turbulente sozioökonomische Epochen und umwälzende Marktveränderungen angepasst und diese erfolgreich bewältigt hat. Wir sind daher zuversichtlich, dass es auch dieses Mal gestärkt hervorgehen wird. Das bedeutet nicht, dass wir die Herausforderungen unterschätzen. Auch wird nicht jedes Unternehmen erfolgreich sein. Die führenden Versicherer von morgen werden diejenigen sein, die heute die notwendigen Überlegungen anstellen, um sich strategisch neu aufzustellen, und entsprechend handeln.

Krisztina Bakor, Matthew Latham und Teresa Schrezenmaier von EY haben zu diesem Artikel beigetragen.


Fazit

Die COVID-19-Pandemie, gravierende Klimaereignisse und soziale Unruhen haben die Dynamik beschleunigt, was die ökologische und soziale Verantwortung von Unternehmen anbelangt. Noch müssen die Versicherer die Konsequenzen verstehen. Sie haben jedoch Vorteile, wie etwa ihr Wissen über langfristige Risiken und ihre Erfahrung darin, durch schwierige Zeiten zu navigieren. Jetzt heißt es, die richtigen Strategien zu entwickeln und entsprechend zu handeln.